„Corona verschärft die Armut“

Die Corona-Pandemie hat zum stärksten Rückgang der Wirtschaftsleistung seit der Finanzkrise von 2009 und zum zweitgrößten Einbruch seit der Wiedervereinigung vor 30 Jahren geführt. Was das vor allem für Menschen mit geringem Einkommen bedeutet, darüber sprach der „Gäubote“ im Kontext seiner Weihnachtsaktion „Hoffnung in der Krise“ mit Alfred Schmid (62), seit 2002 Dezernent für Jugend und Soziales im Landratsamt Böblingen.

Von Jutta Krause

Lesedauer: ca. 3min 47sec
Während derCorona-Pandemie ist die Arbeitslosigkeit im Kreis gestiegen GB-Foto:Schmidt

Während derCorona-Pandemie ist die Arbeitslosigkeit im Kreis gestiegen GB-Foto:Schmidt

„Gäubote“: Wie wirkt sich die Corona-Pandemie im Kreis Böblingen aus?

Alfred Schmid: „Im Frühjahr hatten wir einen deutlichen Einbruch in der Industrieproduktion. Auf die Pandemie hat die Bundespolitik sofort reagiert und rückwirkend zum 1. März ein verbessertes Krisen-Kurzarbeitergeld aufgelegt. Im Kreis Böblingen betrifft das zwischen März und Oktober 2020 circa 4300 Betriebe, die für 93318 Personen Kurzarbeit angezeigt haben – das entspricht über 50 Prozent aller sozialversicherungspflichtig Beschäftigten im Kreis. Die tatsächliche Inanspruchnahme wird indes erst zeitversetzt erfasst. Die Maßnahme zeigt Wirkung, sie verhindert Arbeitslosigkeit im großen Stil und erhält den Betrieben die Fachkräfte.“

Es gibt indes Bereiche, die besonders betroffen sind, wo das Mittel nicht greift.

„Die Bereiche Gastronomie, Hotel, Einzelhandel, Reise- und Veranstalterbranche trifft die Krise natürlich immens. In diesen Bereichen gab es über die Kurzarbeit hinaus sicher auch Entlassungen. Aber der Bund und auch das Land tun hier viel. So wurden Sozialschutzpakete und Hilfsfonds verabschiedet, die das abfedern und die nun verlängert werden sollen.“

Wie schlägt sich Corona in der

Arbeitslosenstatistik nieder?

„Allgemein ist die Arbeitslosigkeit gestiegen, wenn auch deutlich gedämpft. Vergleicht man etwa die Zahlen vom Oktober 2019 mit Oktober 2020, so ergibt sich für den Kreis ein Anstieg der Arbeitsuchenden um 45 Prozent. Das ist eine deutliche Entwicklung nach oben, die aber ohne Kurzarbeit noch höher wäre. Zuvor hatten wir ein Allzeittief an Arbeitslosigkeit im Kreis, die Arbeitslosenquote lag 2018 und 2019 bei 2,8 Prozent. Im Frühjahr stieg sie auf 4,2 Prozent, im Oktober lag sie bei 4 Prozent.“

Wie machen sich die Folgen der Pandemie

in Ihrem Dezernat bemerkbar?

Werden mehr Hilfen beantragt?

„Ein Drittel der Leistungsempfänger bei den Jobcentern haben zwar Arbeit, ihr Verdienst liegt aber unter dem Existenzminimum und sie erhalten aufstockende Leistungen. Auch da gibt es einen deutlichen Anstieg. Die Zahl der Haushalte, die Grundsicherung erhalten, ist von Februar bis Juni 2020 um 9,4 Prozent angestiegen. Seit Juli ging diese Zahl kontinuierlich zurück, nach Auflösung des Lockdowns trat eine relativ rasche Normalisierung ein. Aktuelle Zahlen liegen allerdings noch nicht vor. Beim Wohngeld ist die Zahl der Neuanträge von März bis Juli deutlich angestiegen. Wir können zwar statistisch nicht erfassen, was dabei pandemiebedingt ist, gehen aber davon aus, dass Corona der Hauptgrund ist. Auch hier gab es im August einen leichten Rückgang. Die Sozialleistungsorganisationen nutzen sämtliche Ermessensspielräume, damit Leistungen in vereinfachten Verfahren rasch zur Auszahlung kommen.“

Stichwort Schuldnerberatung:

Haben Sie es da mit steigenden

Fallzahlen zu tun?

„Der Ansturm auf die Schuldnerberatung wird noch kommen, hält sich bislang aber in Grenzen. Wir vermuten, dass viele Menschen ihre finanzielle Lage als temporär ansehen. Manche warten mit der Schuldenregulierung – auch weil die Insolvenzverordnung geändert werden soll, so dass Insolvenzverfahren nur noch drei Jahre lang dauern anstatt der bisherigen sechs. Wir gehen davon aus, dass der Ansturm sich zeitversetzt zeigen wird.“

Wieso trifft Corona Menschen mit geringem

Einkommen oder in prekären Situationen

besonders?

„Corona verschärft die Armut, das ist vollkommen klar. Im Lockdown sind einige Hilfen weggefallen: Das Mittagessen in der Schule gab es nicht, die Tafelläden hatten geschlossen – da kann sich leicht vorstellen, dass sich die Situation auf Menschen in prekären Situationen stärker auswirkt. Armut bedeutet auch, keine Wahlmöglichkeiten zu haben, aus der Teilhabe ausgeschlossen zu sein, was sich in der Pandemie ebenfalls verstärkt.“

Ihr Dezernat ist auch für Geflüchtete zuständig. Wie hat Corona deren

Situation verändert?

„Die Integration leidet, denn die entsprechenden Angebote – etwa Sprachkurse, die eine Basis für gelungene Integration sind – wurden zeitweilig eingestellt und im Herbst stark eingeschränkt wieder angeboten. In den Gemeinschaftsunterkünften gelten zum Teil verschärfte Kontaktbeschränkungen, was sich auch auf Hilfeleistungen auswirkt, da der Kontakt mit Integrationsmanagern und ehrenamtlichen Helfern erschwert ist. Die Lernsituation für die Kinder ist schwierig, schon allein, weil oft die technischen Ausstattungen fehlen und Familien sich Internet und Laptop nicht leisten können. Zudem trifft es bei den pandemiebedingten Entlassungen Helferberufe und Hilfsarbeiten stärker – in diesem Bereich sind oft auch Menschen mit Migrationshintergrund beschäftigt.“

Welche Hilfen gibt es von staatlicher Seite

und wo sehen Sie Lücken?

„Der Sozialstaat handelt bedarfsorientiert und kann die größte Not abfedern. Aber diese generellen Maßnahmen können im Einzelfall Härtefälle nicht verhindern. Es gibt Schicksalsschläge, vor denen kein Mensch gefeit ist, im privaten oder beruflichen Leben, die Menschen aus der Bahn werfen und zum gesellschaftlichen Absturz führen können. Unabhängig von Corona können wir froh sein, dass es in unserem Staat eine Grundabsicherung gibt, welche die größte Not solidarisch abfedert. Aber nicht jeder Einzelfall ist hier gut bedacht. Deshalb bin ich dankbar um die Weihnachtsaktion und die Einzelfallhilfe des Arbeitskreises ’Miteinander – Füreinander’, die nachhaltig seit langer Zeit Menschen in schwierigen Situationen unterstützt. Sie trägt dazu bei, unbürokratisch Not zu lindern und bringt Hoffnung für betroffene Familien.“


Die „Gäubote“-Weihnachtsaktion steht dieses Jahr unter dem Motto „Hoffnung in der Krise“ und will im Zuge der Einzelfallhilfe

Menschen unterstützen,

die durch Corona in Not geraten sind …

„Zu der Aktion kann ich Sie nur beglückwünschen. Denn beim Thema Corona muss man auch an die Schwachen denken, die das stärker betrifft als die Durchschnittsbevölkerung. Da ist diese Aktion ein schönes, solidarisches Zeichen. Ich bedanke mich jetzt schon bei jedem, der mit einer Spende dazu beiträgt, dass Menschen in Not geholfen werden kann – schnell und unbürokratisch. Das ist eine tolle Sache, die in der Corona-Krise wichtiger ist denn je.“

Alfred SchmidGB-Foto: gb

Alfred SchmidGB-Foto: gb

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Erstellt:
10. Dezember 2020

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