Ein Schicksalsschlag folgt auf den nächsten

„Gäubote“-Weihnachtsaktion: Eine Frau aus Haslach verlor den Mann, die Wohnung und den Arbeitsplatz. Nach einem Schlaganfall kämpft sich die 66-Jährige zurück in den Alltag – vor allem dank der Einzelfallhilfe.

Von Cristina Priotto

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Aufgrund eines Fahrzeugbrands in einer Garage eines Mehrfamilienhauses in der Hohenzollernstraße in Haslach verlor eine 66-Jährige vorübergehend ihre Wohnung und viele private Besitztümer. GB-Foto (Archiv): SDMG/Dettenmeyer

Aufgrund eines Fahrzeugbrands in einer Garage eines Mehrfamilienhauses in der Hohenzollernstraße in Haslach verlor eine 66-Jährige vorübergehend ihre Wohnung und viele private Besitztümer. GB-Foto (Archiv): SDMG/Dettenmeyer

„Alles ist eine Katastrophe“, sagt die Frau, und was nach pessimistischer Zusammenfassung eines zu zwei Dritteln gelebten Lebens klingt, trifft im Fall der 66-Jährigen aus vielerlei Gründen zu. Denn so viel Pech und so viele schwere Schicksalsschläge, wie die gebürtige Ungarin, die in Haslach lebt, in den vergangenen Jahrzehnten verkraften musste, sind so konzentriert selten.

Die Frau mit langen, braunen Haaren und Brille sitzt in der Diakonischen Beratungsstelle in der Bahnhofstraße und erzählt von einem Leben voll harter Prüfungen. Bereits im Alter von 14 Jahren begann die Ungarin zu arbeiten und setzte verschiedene Tätigkeiten bis 1990 in ihrem Herkunftsland fort. Nach der Heirat mit einem Deutschen im Jahr 1993 folgte der Umzug nach Deutschland, wo die Mutter einer damals zehn Jahre alten Tochter sich drei Jahre lang um die kleine Familie kümmerte, während der Gatte ein Wasserkraftwerk betrieb. Aufgrund der Krebserkrankung ihrer eigenen Mutter kehrte das Trio 1996 vorübergehend zurück nach Ungarn und investierte Geld in drei GmbHs, unter anderem in eine zur Schnapserzeugung. „Unsere Geschäftspartner haben uns betrogen, und wir haben fast alles verloren“, erzählt die Mitsechzigerin verbittert.

Krebstod der Mutter und gescheiterte Selbstständigkeit

2007 zog das Paar erneut nach Deutschland, und zwar in den Herrenberger Stadtteil Haslach und versuchte einen Neuanfang, diesmal in der Gastronomie mit eigenen Restaurants im Raum Herrenberg, in denen beide kräftig anpackten. Doch die fragile Sicherheit hielt nicht lange an: 2010 erkrankte der Partner der Frau an Krebs, die Familie sah sich zur Aufgabe der Selbstständigkeit gezwungen, und die Ungarin musste sich eine neue Arbeit suchen. Als ungelernte Kraft fand die Frau eine Anstellung in einer Spielhalle. „Ich hatte während der gesamten fünf Jahre, in denen mein Mann schwer krank war, jeden Tag Angst, dass er nach meiner Rückkehr von der Spätschicht nicht mehr am Leben sein könnte“, schildert die Witwe bange Zeiten. Auf die Schicksalsschläge aus Ungarn – Krebstod der Mutter und Scheitern der Selbstständigkeit – folgte im Jahr 2015 mit dem Tod des Gatten ein weiteres schlimmes Erlebnis im privaten Bereich.

Die einzige Tochter des Paares, mittlerweile 42 Jahre alt, kann die Eltern respektive die Mutter aufgrund einer psychischen Erkrankung nicht unterstützen und lebt in einem betreuten Wohnheim in Nagold. Weitere Verwandte hat die Frau in Deutschland nicht – beide Enkelinnen und die drei Urenkel wohnen in Ungarn.

Der nächste schlimme Schicksalstag für die nach 23 Ehejahren Verwitwete folgte am 24. Juni 2024, als in einer Garage neben der Wohnung in der Hohenzollernstraße in Haslach gegen 18.55 Uhr ein Auto Feuer fing. „Ich schaute gerade etwas im Fernsehen an, als ich plötzlich ein komisches Geräusch hörte und vor die Tür lief. Da rief ein Nachbar schon, es brenne, und wir müssten alle das Haus verlassen.“ Die Stimme stockt, die Frau ringt mit der Fassung und sagt entschuldigend: „Wenn ich daran denke, ist das wieder so schlimm“ und zeigt Fotos von Flammen, die aus Fenstern schlagen, auf dem Smartphone. Nur mit den Kleidern am Leib, dem Hausschlüssel und einer Handtasche mit etwas Geld, Karten und dem Ausweis rannte die 66-Jährige ins Freie – immerhin unverletzt, wie eine Untersuchung durch Rettungskräfte ergab. „Gott sei Dank“, sagt die Frau heute. Die ermittelnden Polizisten fragten die Alleinlebende gegen 22 Uhr, wie es um eine Schlafgelegenheit für die Nacht bestellt sei, denn vier der Wohnungen in dem Mehrfamilienhaus waren durch Ruß und Löschwasser so stark in Mitleidenschaft gezogen, dass die Räume vorübergehend nicht bewohnt werden konnten. Kirchenpflegerin Nicola Reitzenstein von der evangelischen Kirchengemeinde Haslach nahm sich der plötzlich vorübergehend Obdachlosen an und brachte die Ungarin für die erste Woche in einer freien Wohnung im evangelischen Gemeindehaus in Haslach unter.

Danach suchte die Brandgeschädigte Hilfe im Rathaus in Herrenberg, ebenso wie die Betroffenen aus den drei anderen Wohnungen aus der Hohenzollernstraße. „Die Mitarbeiter bei der Stadtverwaltung wollten mich in einen Wohncontainer stecken – aber ich bin eine alte Frau und arbeitete damals noch bis Mitternacht in einer Spielhalle. Wie hätte ich dort spätnachts ohne Auto hinkommen sollen?“, fragt die 66-Jährige und schüttelt den Kopf. Letztlich kam das Opfer ab Juli vergangenen Jahres zehn Monate lang bis März 2025 in einer städtischen Notunterkunft in der Schweriner Straße in Herrenberg unter.

In dieser Situation suchte die Frau erstmals die Sozialberatung der Diakonischen Bezirksstelle auf. Denn beim Bezug der Zwei-Zimmer-Mietwohnung hatten die Ungarin und ihr deutscher Mann keine Hausratversicherung abgeschlossen – ein fataler Fehler. „Die Küche und das Schlafzimmer sahen am schlimmsten aus“, erzählt das Brandopfer, das die Räume während der Renovierung wochenlang nicht betreten durfte. Bis auf ein paar in Plastiktüten gelagerte Kleidungsstücke musste die komplette Ausstattung ersetzt werden.

Hier kam Marcus Balzer von der Sozial-und Lebensberatung und Bezirksgeschäftsführung des Evangelischen Diakonieverbands im Kreis Böblingen ins Spiel: „In einem Erstgespräch haben wir zusammengetragen, was die Frau benötigt“, erzählt Balzer. Die Liste umfasste neben Kleidung auch neues Mobiliar für das Schlafzimmer. Um die Neuanschaffungen kümmerte die 66-Jährige sich selbst und reichte die Kostenvoranschläge bei der Diakonie ein. Bei den Möbeln gestaltete sich dies einfacher als bei der Ersatzkleidung: „Ich wog damals nur 40 Kilogramm, deshalb fand ich im Diakonieladen nichts zum Anziehen, das passte“, berichtet die Wahl-Haslacherin. Heike Ottmar-Roder (GB-Foto: gb), im Haus der Diakonie für das Sekretariat, die Erstanlaufstelle und die Verwaltung des Arbeitskreises „Miteinander – Füreinander“ zuständig, ergänzt: „Wir erwarten von den Klienten, dass sie verschiedene Angebote einholen, bevor wir die Anträge prüfen und gegebenenfalls Geld ausbezahlen respektive Rechnungen übernehmen“. Die Vermieterin indes bekam die Kosten für ein neues Fenster und eine neue Eingangstür von der Gebäudeversicherung ersetzt. Die verrußten Küchenmöbel blieben drin: „Ich habe wie ein Putzteufel mit allen möglichen Mitteln die Küche geschrubbt“, erzählt die Bewohnerin der Haslacher Mietwohnung.

Während das Brandopfer noch in der Notunterkunft in der Schweriner Straße lebte und von dort zur Arbeit in die Spielhalle ging, schien somit zumindest wohnausstattungstechnisch wieder einiges in Ordnung gekommen. Doch Ende Dezember 2024 folgte ein weiterer herber Einschnitt: Die Frau verlor von einem Tag auf den anderen unerwartet ihren Arbeitsplatz.

Dies erschwerte das finanzielle Zurechtkommen nach der Rückkehr in die Wohnung in Haslach ab April dieses Jahres, doch langsam fasste die 66-Jährige letztlich wieder Fuß in der gewohnten Umgebung.

Als wären all diese Schicksalsschläge nicht schon genug, um einen ohnehin vielfach gebeutelten Menschen aus der Bahn zu werfen, ereignete sich am 4. August 2025 ein weiterer Rückschlag, diesmal gesundheitlicher Art: „Ich stand unter der Dusche, als ich merkte, dass ich plötzlich meine rechte Hand und den rechten Fuß nicht mehr bewegen konnte. Das war ganz arg schlimm“, schildert die Wahl-Haslacherin. Nur in einen Bademantel gekleidet, konnte die Frau noch eine Nachbarin informieren, die den Rettungsdienst rief. Die Sanitäter diagnostizierten einen Schlaganfall und brachten die halbseitig Gelähmte ins Klinikum Sindelfingen. „Die Zeit dort war schlimm, denn ich konnte nicht selbstständig essen und nicht laufen“, erinnert sich die Schlaganfallpatientin. Auf den Krankenhausaufenthalt folgte eine mehrwöchige Reha in Warmbronn bei Karlsruhe, auch an diese hat die 66-Jährige nicht nur gute Erinnerungen: „Die ersten zwei Wochen waren katastrophal“, beschreibt die Frau. „Ich hatte jeden Tag sehr viel Training, konnte aber trotzdem lange nur mit Hilfe eines Rollators laufen.“ Mittlerweile bewegt die Rentnerin sich zwar besser und ohne Gehhilfe wieder eigenständig fort, jedoch eingeschränkt: „Ich schaffe 300 Meter am Stück, und das nur sehr langsam, danach wird das Laufen sehr anstrengend“, schildert die Wahl-Haslacherin die aktuelle Situation. Viele Tätigkeiten im Alltag bereiten der Alleinlebenden noch Mühe: „Wenn ich beim Kochen Gemüse schneide oder beim Zähneputzen“, zählt die Frau typische Situationen auf, in denen Reste der Lähmung nach dem Schlaganfall Spuren hinterlassen haben. Die linke Hand zu Hilfe zu nehmen, ist keine Option – dort bekam die Rentnerin nach einer Hundeattacke eine Platte implantiert, die sich noch im Körper befindet und Bewegungen einschränkt.

Fragt man die Frau, wie es ihr heute gehe, antwortet die Ungarin: „Ich versuche, nicht daran zu denken, was ich alles erlebt habe. Alles zusammen ist eine Katastrophe.“ Von der kranken Tochter sei ebenso wenig Hilfe zu erwarten wie von den Enkelinnen und den Urenkeln in Ungarn, am ehesten noch von der Diakonie. Eine Rückkehr zu den Verwandten nach Ungarn schließt die 66-Jährige kategorisch aus: „Ich hasse dieses Land“, bricht es aus der Witwe hervor, die mit dem Herkunftsland vor allem die gescheiterte Selbstständigkeit als negatives Erlebnis verbindet. „Es heißt immer, jeder sei für sein Leben selbst verantwortlich. Aber was mir passierte, ist alles nicht meine Schuld“, sagt die Frau, und es schwingt Verzweiflung in der Stimme mit. Die vielen Verluste machen der Wahl-Haslacherin schwer zu schaffen: „Ich war immer fit und selbstständig, hatte eine Familie und eine Arbeit. Jetzt bin ich behindert, allein und muss alles selbst regeln“, zählt die vielfach Gebeutelte auf. Und dennoch ist die vom Schicksal Gezeichnete der Sozialberatung samt Einzelfallhilfe der Diakonie dankbar: „Man kann sich nicht vorstellen, wie viel 80 Euro helfen können, aber mir hat das sehr geholfen“, gesteht die Frau – und sieht Lichtblicke: „Jeder Tag, den ich erlebe, ist für mich ein Geschenk, denn ich weiß nicht, wie lange ich noch lebe“.

Solche Multiproblemlagen sind keine Seltenheit für die Berater

Marcus Balzer ist froh, dass Menschen über die Einzelfallhilfe schnell und unbürokratisch Hilfe erhalten können. „Wo würden die Leute hingehen, wenn es uns nicht gäbe?“, fragt der Berater. Klienten mit so vielen Problemen wie die 66-Jährige gebe es öfter, und zwar häufig in der Kombination Erkrankung, Jobverlust, Wohnung in Gefahr und Todesfälle. „Es sind oft Multiproblemlagen, bei denen teils unklar ist, ob es Fälle für die Sozialberatung oder den sozialpsychiatrischen Dienst sind.“ „Oder für beides“, fügt Heike Ottmar-Roder hinzu.

Die Frau aus Haslach wird ab 1. März 2026 Rente beziehen –Höhe unbekannt. Die Rentnerin und die Mitarbeiter der Diakonie könnten sich also womöglich auch künftig öfters sehen.

Ich versuche, nicht daran zu denken, was ich alles erlebt habe 66-jährige Frau aus Haslach

Im Diakonieladen in Herrenberg finden Menschen mit wenig Geld günstig gebrauchte Kleidung. Doch nicht immer gibt es alles in passenden Größen.GB-Foto (Archiv): Schmidt

Im Diakonieladen in Herrenberg finden Menschen mit wenig Geld günstig gebrauchte Kleidung. Doch nicht immer gibt es alles in passenden Größen.GB-Foto (Archiv): Schmidt

Heike Ottmar-Roder

Heike Ottmar-Roder

Im Diakonieladen in Herrenberg finden Menschen mit wenig Geld günstig gebrauchte Kleidung. Doch nicht immer gibt es alles in passenden Größen.GB-Foto (Archiv): Schmidt

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Erstellt:
20.12.2025, 00:00 Uhr