Lebensgeschichten enden mit einem knappen Satz

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Die 14 Karten auf dem schwarzen Tuch enthalten die Lebensdaten der Verstorbenen GB-Foto: Holom

Die 14 Karten auf dem schwarzen Tuch enthalten die Lebensdaten der Verstorbenen GB-Foto: Holom

Ein Blatt Papier, weiß auf einem schwarzen Tuch. Sehr nüchtern steht auf diesem Papier: „Frau. Geburtsdatum unbekannt. Verstorben 06.10.1942. Grafeneck.“ Es sind 14 solcher Blätter, die am Montagnachmittag einen Kreis bilden um eine kleine Statue, die aus der nationalsozialistischen Tötungsanstalt Grafeneck stammt. Viele Herrenberger kamen am Montag in die Spitalkirche, um der Opfer des Mordes an kranken und behinderten Menschen zu gedenken.

Zu jeder vollen und jeder halben Stunde lesen Herrenberger Bürger Lebensgeschichten der Opfer von Grafeneck. 10654 Menschen wurden zwischen Januar und Dezember 1940 aus Heil- und Pflegeanstalten, psychiatrischen Kliniken, zumeist in Baden-Württemberg, zum barocken Schlösschen bei Gomadingen im Landkreis Reutlingen gebracht und dort oft noch am selben Tag vergast. 14 Menschen aus Herrenberg starben in Grafeneck.

Die Geschichten, die am Montagnachmittag in der Spitalkirche gelesen werden, haben zumeist stellvertretende Funktion: Nur ein Opfer, ein zweijähriger Junge aus Oberjesingen, ist namentlich bekannt. Rosemarie Liebler-Merz, die zum Gedenken aufrief und die Spitalkirche als Gedenkraum gestaltete, wählte 13 weitere Biografien aus: die Lebensgeschichten von Menschen, jung oder alt, die 1940 mit einem knappen Satz enden, hinter dem sich der kalte Schrecken des politisch organisierten Massenmordes verbirgt, der sich in unmittelbarer Nachbarschaft zutrug.

Der 27. Januar ist der 75. Jahrestag der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz, er erinnert symbolisch an die zahlreichen Opfer des verbrecherischen deutschen Regimes zwischen 1933 und 1945. In der Spitalkirche sitzen Menschen im Kreis. Ein kleines Podest steht in ihrer Mitte, abgedeckt mit schwarzem Tuch. Am Boden auf diesem Tuch liegen die 14 Karten, die die Lebensdaten der Verstorbenen tragen. Oben die Skulptur des Bildhauers Jochen Meyder, eine von 10654 handgroßen Terrakottafiguren, die für die Toten von Grafeneck stehen. Rosemarie Liebler-Merz brachte sie nach Herrenberg.

Die Gemeinderäte Sarah Holczer, Wilhelm Bührer und Annegret Stötzer-Rapp gehören zu den Bürgern, die sich auf Anfrage von Rosemarie Liebler-Merz bereiterklärten, in der Spitalkirche zu lesen. Stadtarchivarin Dr. Stefanie Albus-Kötz liest ebenso wie Georg Stickel, Renate Kautz, Ines Böttcher und Elisabeth Kaiser. Der Stuhlkreis ist voll, 20 bis 25 Besucher finden sich zu jeder halben Stunde ein. „Manche Leute kommen mehrmals“, sagt Rosemarie Liebler-Merz. „Das ist unendlich beeindruckend.“

Einmal sind es zur vollen Stunde gar zwei Herrenberger, die nacheinander lesen: Eva Roll und Roland Feil, beide Mitglieder der katholischen Kirchengemeinde. Eva Roll erzählt von Marie Friederike Zehender aus Besigheim, geboren am 6. Dezember 1872, gestorben am 7. August 1940. Sie war die jüngste Tochter eines Fischers. Mit zwei Jahren verlor sie durch eine Kinderkrankheit ihr Gehör. Eine Schule hat sie vermutlich nie besucht. Im September 1885 wurde sie nach Behandlung wegen verschiedener Krankheiten aus der Werner’schen Kinderheilanstalt in Ludwigsburg entlassen. „Wie ihr Leben bis dahin wohl verlaufen war?“, fragt Eva Roll. „Wurde sie weggesperrt? Musste sie der Mutter im Haushalt helfen? Hatte sie Freundinnen? Durfte sie spielen?“

„Sie muss in eine Irrenanstalt übergeben werden“

Ein Krankenblatt der Taubstummenanstalt Winnenden beschreibt Marie als „geistig gesund und bildungsfähig“. „Sie war immer körperlich gesund, hat aber nie menstruiert.“ Später kommt sie in die Winnender Paulinenpflege, ein Asyl für taubstumme Erwachsene. Zuerst arbeitsam, wird Marie später auffällig, zeigt Aggressionen, Angstzustände. 1903: „Sie muss in eine Irrenanstalt übergeben werden.“ Mit Zustimmung ihres Vaters geschieht dies; die Mutter ist bereits verstorben. 1904 wird Marie in die Heilanstalt Weinsberg verlegt. Sie wird medikamentös ruhiggestellt; dass sie taubstumm ist, ist längst vergessen. Im Oktober 1921 wird sie in die Landarmenanstalt Markgröningen verlegt. Von dort kommt sie nach Grafeneck, zählt zu den ersten Opfern. Sie wurde 67 Jahre alt.

Roland Feil erzählt von Alfred Händel, Glasschleiferlehrling, ebenfalls aus Besigheim, geboren am 22. Dezember 1909 in Heilbronn, gestorben am 21. Juni 1940 in Grafeneck. 1933 erkrankt Alfred Händel an Schizophrenie. Zuvor galt er als gesund, zurückhaltend, belesen, umgänglich. Eine Auseinandersetzung mit seinem Vorgesetzten bringt seine Krankheit zum Ausbruch. Er kommt in die Universitätsnervenklinik Tübingen, zunächst kaum ansprechbar, später in deutlich verbessertem Zustand. Auch er wird nach Weinsberg verlegt. Er magert ab, wird nach Hause entlassen, wieder eingewiesen, 1936 sterilisiert. Er ist 30 Jahre alt, als er getötet wird.

Beide Geschichten, jene von Marie Zehnder und Alfred Händel, erzählen von Leiden, die nicht erst in Grafeneck begannen, von einer Gesellschaft, in der psychisch kranke und behinderte Menschen zuvor schon deklassiert und institutionalisiert wurden. Ein Blick auf die Lebensläufe der Mörder von Grafeneck indes zeigt, dass sich auch in der Nachkriegszeit kein neues Bewusstsein bildete: Viele der Ärzte oder administrativen Mitarbeiter der Tötungsanstalten mussten keine oder nur geringfügige Haftstrafen auf sich nehmen.

In der Herrenberger Spitalkirche denkt man an die Opfer am Montagnachmittag. Die Menschen im Kreis schweigen, bis ein Mann sich zu Wort meldet und von einer Tante erzählt, die vor 1940 im Samariterstift Grafeneck untergebracht war. Einer der dortigen Mitarbeiter war bekannt mit der Familie und informierte sie über ungeheuerliche Vorfälle im Haus. Es gelang, die Tante zu retten. „Das ist es, was ich mir gewünscht habe“, sagt Rosemarie Liebler-Merz. „Dass die Menschen einen Weg finden, über all das zu reden.“ Kerzen hat sie nicht entzündet in der Spitalkirche – mit gutem Grund: Denn Kerzen, sagt sie, sollten brennen, bis sie von selbst erlöschen. Deshalb nehmen die Besucher der Spitalkirche nun eine Kerze mit zu sich nach Hause, um sie dort für die Opfer von Grafeneck zu entzünden. THOMAS MORAWITZKY

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Erstellt:
28. Januar 2020

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