Man muss die Entscheidung „verkaufen können“

Von Andreas GAuss

Man muss die Entscheidung „verkaufen können“

Knackpunkt Abwehrmauer: Lehrwart Reiner Bergmann (links) würde als Schiedsrichter einen Pulk an Verteidigern nicht auf der Linie platzieren – sondern entweder davor oder dahinter GB-Fotos: gb

Zehn Schritte, zehn Schritte“, ruft Reiner Bergmann an diesem Samstagmorgen auf dem Kunstrasenplatz laut in die Runde. Umgeben ist er von einem Kreis von rund 20 Schiedsrichteranwärtern, sie alle absolvieren seit mehreren Wochen den Neulingskurs in der SR-Gruppe Böblingen. Nun, auch in Zeiten der kritischen Coronavirus-Verbreitung, so betont der neue Gruppen-Obmann Achim Gack (Herrenberg), habe man in die Runde gefragt, ob man diese siebte Übungseinheit, den sogenannten Praxisblock, noch durchführen solle. Anfang dieser Woche stand schließlich die Abschlussprüfung für die Schiedsrichteranwärter an. Einer habe sich entschlossen, die letzten beiden Einheiten nicht zu absolvieren und sich in entspannteren Zeiten einer Nachprüfung zu unterziehen.

Mit den zehn Schritten, so Bergmann an die Neulinge, habe man so ungefähr den Abstand bei einem Freistoß, der laut Regel 9,15 Meter (zehn Yards im Englischen) getroffen. Bergmann: „Da landet ihr meistens zwischen 9,15 und 9,30 Meter.“ Aber der langjährige Lehrwart der Schirigruppe Calw hat die Freistoßvariante in Strafraumnähe angelegt. Die drei Neulinge, die in Zivilklamotten die Abwehrmauer simulieren, stehen genau auf dem Strich. Reiner Bergmann wiegt die ausgestreckte Handoberfläche bedächtig hin und her, macht ein verkniffenes Gesicht: „Das würde ich als Schiedsrichter eher nicht so machen.“ Denn wenn der Freistoßball einem aus der Mauer an die ausgestreckte Hand fährt, könnte das einen strittigen Fall für einen Handelfmeter ergeben. „Entweder klar davor oder eben im Strafraum, dann kommt man da nicht in Schwierigkeiten.“ Die Neulinge ziehen anerkennend die Augenbrauen hoch und lassen sich von dem alten Fuchs was sagen. Seit November 1983 ist der im SV Baiersbronn aktive Bergmann Schiedsrichter, wechselte 2006 von der Gruppe Freudenstadt nach Calw. Seit acht Jahren gehört er dem Verbandsschiedsrichterausschuss an, dort zeichnet er unter anderem auch für das Beobachtungswesen in der Verbands- und Landesliga verantwortlich. Der langjährige Referee, der einige Jahre in der Landesliga gepfiffen hat, ist Schulungsleiter und vom Spielfeldrand schnalzt Achim Gack mit der Zunge: „Der Reiner könnte einen ganzen Tag lang einen solchen Praxisteil abhalten und es wäre keine Sekunde langweilig.“ Rund zweieinhalb Stunden lang wird durchexerziert, wie man sich als Schiedsrichter auf dem Platz sowie vor und nach dem Spiel am besten verhält.

Auf Sportkleidung wurde bewusst verzichtet. Achim Gack: „Normalerweise wird gezeigt, was korrekte Rempler sind und wann es ein Foul ist. Aber wir verzichten auf Körperkontakt und auch aufs Anschwitzen.“ Der obligatorische Händedruck bei der Begrüßung des Schiedsrichters gegenüber zwei Vereinsverantwortlichen entfällt ebenfalls, doch im Rollenspiel ist Bergmann was aufgefallen: „Das war mir viel zu leise. Ihr braucht Selbstbewusstsein, und das schon in dem Moment, in dem ihr auf den Sportplatz kommt! Denn nachher, im Spiel, solltet ihr eure Entscheidung vertreten können – ihr solltet Konflikte lösen können.“

Damit einem als Unparteiischer die Entscheidung abgenommen werde, müsse man, so Bergmann, vom Anstoßpunkt weg richtig stehen. Man läuft von Beginn an eine sogenannte „Z“-Diagonale von Strafraumeck zu Strafraumeck. Damit beginnt man schon als Neuling, damit einem die Diagonale in Fleisch und Blut übergeht, wenn man später einmal – ab der Landesliga – in den „Genuss“ von Schiedsrichterassistenten an der Linie kommt. Bergmann: „Dann ist man damit schon groß geworden.“ Der Schiedsrichter habe sich zudem zu bewegen, fordert er. „Welchen Bereich meiden wir?“, fragt Bergmann in die Runde. Er wartet gar nicht erst auf das Schulterzucken der angehenden Kollegen: „Das ist die Spielfeldmitte, denn da spielen alle, die ist für uns immer nur zum Durchlaufen da.“

Wie verhält man sich bei der Ausführung von Eckstößen? Wie zeige ich einem Spieler die Gelbe Karte? Was die Schiedsrichterneulinge zuvor in sechs Unterrichtseinheiten auf dem Papier anhand von Fragebögen oder Powerpoint-Präsentationen in der Theorie abgearbeitet haben, wird nun praxisnah vermittelt. Allzu viel Entfernung zum Spielgeschehen, das macht Bergmann immer wieder deutlich, dürfe sich ein Spielleiter nicht erlauben. Bei 50 Meter Entfernung wird einem kaum noch die Entscheidung als nachvollziehbar geglaubt, meint er. Aber wenn die Mannschaft nach abgewehrtem Eckstoß schnell einen Konter fährt, sind 15, 20 Meter Distanz zum Geschehen keine Seltenheit. Bergmann zu dem möglichen Pfiff in einer solchen Situation: „Wenn einer das nicht verkaufen kann, dann hat er ein Problem.“ Er hält auch nichts von Regelkunde auf dem Platz und schärft seinen Schützlingen vor allem eines ein: „Fangt ja nicht das Diskutieren an!“ANDREAS GAUSS

Der Prüfungsabend wurde am vergangenen Montag im Möbelhaus der Wohnidylle Gack mit entsprechendem Abstand der Neulinge voneinander absolviert. Bis auf zwei haben alle bestanden.