Mehr Kapazität für den zu befürchtenden Sturm

Ruhe vor dem Sturm – so umschreibt man gegenwärtig in Medizinerkreisen das drohende Szenario in der Corona-Krise. Das Landratsamt bereitet sich mit weiteren Kapazitätserweiterungen auf diesen möglicherweise zu befürchtenden „Sturm“ vor.

Von Konrad Buck

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Die Fieberambulanzen haben sich nach Einschätzung des Klinikverbundes bewährt GB-Foto: Holom

Die Fieberambulanzen haben sich nach Einschätzung des Klinikverbundes bewährt GB-Foto: Holom

„Die Hälfte der Belegungskapazität ist frei für einen eventuellen Ansturm“, sagt Landrat Roland Bernhard. Derzeit sind in den Kliniken 600 Betten nicht belegt, planbare Operationen wurden verschoben. Andererseits vermag noch niemand abzuschätzen, ob dieser Puffer ausreichen wird. Deshalb hat der Landkreis ein „Überlauf-Management“ initiiert und will in einer kreiseigenen Immobilie eine zentrale Einrichtung schaffen, die die leicht Erkrankten aufnehmen soll, sofern in den Kliniken keine ausreichenden Kapazitäten mehr verfügbar wären. Welche Immobilie der Landkreis für diese Zwecke nutzen wird, steht noch nicht endgültig fest. In einer ersten Stufe sind 50 bis 100 Plätze geplant mit der Option, diese Zahl auf 500 bis 600 auszuweiten. Die Krankenhäuser könnten sich dann der schwerer erkrankten Patienten annehmen. „Wir bereiten ein solches Notfallüberlaufkonzept vor. Wir wollen keine Überkapazitäten schaffen, möchten aber vorbereitet sein“, kündigte Roland Bernhard an. Der Landrat rechnet zudem damit, dass in auch Pflegeheimen und bei der häuslichen Pflege Engpässe entstehen könnten, unter anderem deshalb, weil ausländische Fachkräfte ausfallen.

Eine weitere Maßnahme soll dazu beitragen, die Kliniken und Arztpraxen zu entlasten: In der Nähe der Testzentren will der Landkreis ambulante Notfallzentren und Infektionspraxen einrichten, die von den ärztlichen Notfallpraxen in Zusammenarbeit mit niedergelassenen Ärzten betrieben werden sollen – zunächst in Sindelfingen in einer leer stehenden Arztpraxis, dann in Herrenberg bei der Straßenmeisterei und zuletzt in Leonberg. „Wir wollen damit verhindern, dass sich zu viele infizierte Patienten in Krankenhäusern und Arztpraxen aufhalten“, erläutert der Landrat. Bereits umgesetzt sind die in den Kliniken eingerichteten Fieberräume, die als „verlängerter Arm der Notambulanzen“ dienen für solche Patienten, die Fiebersymptome haben, sagt Dr. Jörg Noetzel, medizinischer Geschäftsführer des Klinikverbunds Südwest. Die Infektionspraxen sind – im Unterschied zu den Fieberambulanzen – als Anlaufstelle für Patienten gedacht, die Symptome aufweisen, aber nicht so schwer erkrankt sind, dass über die Fieberambulanzen direkt eine stationäre Aufnahme empfohlen wird. Wer tatsächlich infiziert ist, wird auf die Isolierstation verlegt, nicht-infizierte Patienten kommen auf die Normalstation oder in ambulante Behandlung. Um Mitarbeiter zu schützen, hat der Klinikverbund auch für Wochenstationen der Geburtshilfe eine Besuchssperre erlassen. Ausgenommen davon sind nur die werdenden Väter, die an der Geburt weiterhin teilhaben dürfen.

Weitere Beatmungsgeräte
sollen in China bestellt werden

Die aktuellen Zahlen aus dem Landkreis Böblingen: Bis gestern Mittag sind 664 Personen positiv auf Corona getestet worden, zehn Menschen sind an den Folgen der Infektion verstorben. 33 Personen sind genesen – mit steigender Tendenz. Bislang sind 5000 Tests gemacht worden, zuletzt 400 pro Tag. „Wir wollen die Marke von 500 Tests pro Tag erreichen“, kündigte Roland Bernhard an. Derzeit besteht in dieser Hinsicht aber kein großer Druck, denn in den Testzentren gebe es keine größeren Wartezeiten mehr, ergänzte er. An den Kriterien hält das Gesundheitsamt fest: Getestet wird nur, wenn Symptome vorliegen. Ausbauen wollen Landkreis und Klinikverbund auch die Zahl der Beatmungsplätze in den Krankenhäusern, zumal ein Beatmungsplatz durchschnittlich zwei bis drei Wochen lang von einem Patienten belegt wird. „Wir wollen die Ruhe vor dem Sturm auch dazu nutzen, die Mitarbeiter intensiv zu schulen und auf den Einsatz in Notaufnahme und Intensivstation vorzubereiten“, sagt Dr. Jörg Noetzel. Derzeit stehen im Landkreis Böblingen 63 Beatmungsplätze zur Verfügung. In China will der Klinikverbund Südwest weitere Beatmungsgeräte bestellen – 35 für die Kliniken im Landkreis Böblingen und zehn für die beiden Standorte im Landkreis Calw. „Wir möchten die Beatmungskapazitäten schnell erhöhen, die Lieferzeiten in Deutschland sind sehr lang“, erklärt der Landrat den Umstand, weshalb man die Geräte in China ordert. Der Klinikverbund schließt sich dabei einer Sammelbestellung des Landes an, koordiniert vom Sozialministerium.

Engpässe gibt es auch bei der Schutzausrüstung. „Wir haben am Wochenende eine Lieferung erhalten, aber das ist ein Tropfen auf den heißen Stein und würde gerade mal für einen Tag am Krankenhaus Herrenberg reichen“, berichtet der Landrat. Der Landkreis wartet auf weitere Lieferungen vom Land, ist aber auch selbst initiativ geworden und hat – ebenfalls überwiegend in China – Schutzausrüstung in einem Volumen von 1,7 Millionen Euro geordert. Der Landkreis will diese Utensilien zum Einkaufspreis weitergeben und im gesamten Kreisgebiet verteilen – und zwar an ambulante und stationäre Pflegekräfte, Rettungsdienste, niedergelassene Ärzte, Hebammen, Bestatter, Jugendbetreuungseinrichtungen, Katastrophenschutzeinheiten, Polizei und an die Betreiber kritischer Infrastrukturen. Der Landrat appelliert aber auch, dass die Kommunen selbst Material zu erwerben versuchen sollten, obwohl dies „absolut unbefriedigend“ sei.

Roland Bernhard hatte in diesen schwierigen Zeiten aber auch noch eine positive Nachricht zu verkünden. So funktioniert laut seinen Angaben die Hotline des Gesundheitsamtes mittlerweile reibungslos. Zudem versuche man, im Landkreis Böblingen – im Gegensatz zu anderen Landkreisen – auf Allgemeinverfügungen zu verzichten und stattdessen weiterhin Einzelanordnungen zur häuslichen Quarantäne auszusprechen. Vorerst eingestellt hat das Landratsamt die Vorgehensweise, Daten von Infizierten an die Polizei weiterzugeben. Die Böblinger Behörde hatte zunächst der Bitte des Polizeipräsidiums Ludwigsburg entsprochen, weil die im Einsatz befindlichen Polizisten wissen sollten, welche Personen infiziert sind. Aus datenschutzrechtlichen Bedenken hat das Sozialministerium mittlerweile aber verfügt, diese Praxis einzustellen. Der Landrat kann diese Haltung nicht nachvollziehen: „Gesundheitsschutz geht vor Datenschutz“, meint er.

Der Klinikverbund Südwest sucht derweil immer noch händeringend Personal für die Kranken- und Altenpflege, auch solche Kräfte, die Erfahrungen in Anästhesie und Intensivpflege vorweisen können.

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Erstellt:
2. April 2020

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