Nur mit Hilfe und Wille
„Gäubote“-Weihnachtsaktion: Nach Jahren in der Notunterkunft findet ein Herrenberger eine Wohnung.
Endlich umziehen in eine eigene Wohnung – diese Hoffnung erfüllte sich im Spätsommer für einen weiteren Bewohner der städtischen Notunterkunft. GB-Foto (Symbolbild): Patrick Daxenbichler – stock.adobe.com
Vier Wände wirken unscheinbar, können aber viel ausmachen. Vielleicht sogar ein Leben wieder in die Spur bringen. „Ich bin glücklich, ich bin absolut glücklich“, gesteht ein 56-jähriger Herrenberger. Was direkt ins Auge springe. „Das sagen mir viele von meiner Bekannten mittlerweile, dass ich ja viel besser aussehe.“ Inzwischen lebt der 56-Jährige in einer Ein-Zimmer-Wohnung mit 30 Quadratmetern, vorausgegangen waren ganze fünf Jahre in einer Notunterkunft der Stadt in der Schießmauer. Das ist nun seit dem 1. September Geschichte.
Manchmal gerät ein Leben urplötzlich aus der Spur. Krankheitsbedingt verlor der Herrenberger im Jahr 2020 seinen Job als Lkw-Fahrer, dem er 35 Jahre nachgegangen war, mit Folgen speziell für seinen Rücken. Weil sein damaliger Chef ihm gegen Ende kein Gehalt mehr überweisen konnte, geriet der 56-Jährige bei seinen Mietzahlungen in Verzug. Erhielt kurz vor seiner Kündigung doch noch den Lohn, „aber da war schon die Räumungsklage da“. Der Immobilienmarkt war damals nicht besser als heute. „Wohnraum gibt es genug“, sagt der 56-Jährige. „Wenn man 1000 Euro Kaltmiete zahlen kann, geht das.“ Konnte er aber nicht – und landete in der Notunterkunft.
Ist man in einer solchen erst mal drin, kommt man schwer wieder heraus. Die Umstände dort seien alles andere als förderlich, lauscht man den Anekdoten des Herrenbergers. „Wenn ich morgens um halb sechs die Haustür aufgemacht hab, ist mein Nachbar mit der Wodkaflasche dagestanden – und so ist er abends auch ins Bett gegangen.“ Die Legalisierung von Cannabis hätte die Situation verschlimmert. Ständig seien fremde Leute, die selbst nicht in der Schießmauer leben würden, aber mit Bewohnern bekannt seien, zugegen, die kiffen oder andere Drogen konsumieren, bisweilen dann ausfällig würden. „Es ist oft vorgekommen, dass ich nachts um drei in meinem Bett wach geworden bin und die Polizei stand vor mir, weil wieder Theater draußen war“, erzählt der 56-Jährige.
Mit jedem Jahr, das er länger in der Notunterkunft verbrachte, hätte sich seine Lage verschlechtert. „Hygienemäßig und so weiter, hat alles nachgelassen. Alles“, erzählt er. Auch bedingt durch wiederholte Ausfälle von Heizung und Warmwasser, wie er schildert. Die Stadtverwaltung führt für die Notunterkunft fünf Störungen der Heizung seit 2020, diese würden am selben Tag des Bekanntwerdens beseitigt oder so schnell wie möglich, heißt es aus dem Rathaus.
Der 56-Jährige habe sich anfangs gesagt, dass er maximal ein Jahr in der Notunterkunft leben wollte. „Dann findet man eine Wohnung, zeigt den Personalausweis oder die Mieter-Selbstauskunft, wo ’Schießmauer’ drinsteht und jeder in Herrenberg weiß, was Sache ist. Und dann ist man schon abgestempelt“, berichtet er. „Das sind dann immer so Dämpfer, die einen runterdrücken.“ Ebenso, dass er Erwerbsminderungsrente beantragt hatte, aber schon zweimal abgelehnt worden ist. „Ohne Hilfe und ohne Wille schafft es keiner mehr“, realisierte der 56-Jährige. Fand unterschiedlich Unterstützung, im November 2024 Anschluss bei der Freien Kirche, die einmal im Monat Bedürftige zu Tisch bitten. „Das sind Leute, die mir guttun“, sagt der Herrenberger, der auch bei den Fußballfrauen des VfL stellvertretender Betreuer ist, was ihm gewisse Abläufe bescherte, beschäftigte und zeitweise aus der Notunterkunft lockte.
Über den VfL und seine dortige Bekanntschaft mit Giuseppe Costanza kam im vergangenen Jahr auch der Kontakt zu Bennet Melcher zustande, der mit Costanza den Begegnungstreff „EINtopf“ durchführt und für die Stadt das Projekt „Housing First“ betreut, das Langzeitwohnungslosen wieder zu einer eigenen Unterkunft verhelfen will (der „Gäubote“ berichtete). Dieses Jahr zeigte sich der Durchbruch: Seit Juni hat der 56-Jährige auf 450-Euro-Basis ein Beschäftigungsverhältnis, fährt Kinder morgens nach Sindelfingen in die dortige Sprachheilschule und mittags retour. „Das sind 40 Stunden im Monat, mehr geht nicht“, sagt er. „Dazu muss man natürlich auch ausgeschlafen sein.“ Weshalb eine eigene Wohnung essenziell war. „Mit den Kindern verstehe ich mich gut“, macht dem 56-Jährigen sein derzeitiger Job Spaß.
Der nächste Erfolg war der Mietvertrag im August. Was jedoch seine eigenen Probleme mit sich brachte, da die Miete zum Monatsbeginn fällig war, das Jobcenter, das diese an den Vermieter überweist, aber Zeit benötigt, um alle Formulare zu bearbeiten. Ist die Miete nicht sofort da, steht laut Mietrecht eine Abmahnung im Raum – und die kann schnell zur Kündigung führen. Womöglich, ehe man überhaupt die Wohnung bezogen hat. Beim 56-Jährigen ging letztlich alles gut, einschließlich der Abwicklung der Erstausstattungsunterstützung, die sich wie eine Umzugshilfe beim Jobcenter beantragen lässt, wie Melcher weiß. Zwei Tage nach Antrag waren zwei Leute vom Jobcenter beim 56-Jährigen in der neuen Wohnung, ein paar Wochen später hatte er das Geld auf dem Konto. „Das hat relativ gut funktioniert“, erzählt er.
Was aber nicht die Regel sein muss. „Manchmal dauert der Kreislauf viel, viel länger“, sagt Bennet Melcher. Nicht nur jener für die Erstausstattungsunterstützung, sondern der ganze Weg zurück in die Normalität und zu einer eigenen Wohnung.
Manchmal
dauert der Kreislauf
viel, viel länger Bennet Melcher