Von der Wiese war danach nicht mehr viel zu sehen

Von Berkan Cakir

Mehr als 55 Jahre ist das Motocross-Rennen in Herrenberg her. Die Motorräder ratterten damals auf dem Alten Rain, wo heute die Zufahrt zur Downhill-Strecke des VfL Herrenberg verläuft. Die Schlammschlacht von 1964 auf zwei Rädern durfte aber nur ein einziges Mal stattfinden.

Von der Wiese war danach nicht mehr viel zu sehen

Die Logistik für das Motocross-Rennen beim Alten Rain mit zahlreichen Zuschauern – es sollen um die 3000 Besucher gewesen sein – war aufwendig

Heute ist es kaum mehr vorstellbar, dass auf dem Alten Rain in Herrenberg, diesem Naturidyll am Schönbuchhang, vor Jahrzehnten die Motoren gedröhnt haben. Am 18. Oktober 1964 fand am Kapf, wo heute ein Naturdenkmalschild prangt, das erste Herrenberger Motocross-Rennen statt. Veranstaltet vom MSC Herrenberg. Motorräder preschten über Rampen, spritzten mit den Reifen den Dreck in alle Richtungen und erfüllten die Luft mit dem schneidenden Geruch von Benzin.

Otto Walz erinnert sich noch gut an das Rennen, wenn er dort vorbeispaziert. Walz war damals Fahrer für den Motorsportclub (MSC). Von den späten 50er Jahren bis 1972 ist der Herrenberger für seinen Verein viele Motocross-Rennen gefahren – meist auswärts in Holzgerlingen, Reutlingen oder auch weiter entfernt, etwa im fränkischen Erlangen. Das erste Mal ein Heimrennen im Gäu zu haben, das war für Otto Walz aber ein ganz besonderes Gefühl. Früher hätten viele Leute nicht gewusst, was Motocross überhaupt ist. „Wir wollten zeigen, was wir da machen und dass wir in der Szene präsent sind“, erzählt Walz über die Ursprungsidee.

Um die 30 Fahrer nahmen an dem Wettbewerb teil. Freitags fand der Aufbau statt, Samstag war Training und Sonntag fiel der Startschuss für das Rennen. Die Fahrer bretterten über eine Strecke von 1,2 Kilometern – recht kurz, aber anstrengend. Aber: An dem Oktober-Wochenende zuvor hatte es durchgeregnet, der Boden war aufgeweicht, die Maschinen versanken im Schlamm. „Und damals wurde die Strecke nicht glatt gebügelt wie heute“, betont Walz. Damals hatten die Fahrer auch noch keine richtige Schutzausrüstung. Zum Teil fuhren sie in Latzhosen. Walz lacht, wenn er die alten Bilder sieht, auf denen die Rennfahrer aussehen, als hätten sie sich direkt nach Feierabend mit ihrer Arbeitskleidung auf die Cross-Maschine geschwungen.

Der Herrenberger Motocross machte gleich überregional von sich reden. Das hatte mitunter Gründe, an die man bei solch einem Event vordergründig nicht denkt. Ein Blick in einen Artikel aus einer alten Fachzeitschrift, die Horst Zeller, damals Vorsitzender des MSC, heute noch aufbewahrt, zeigt, was beim Gäu-Motocross viel besser lief als anderswo. Von einer „Veranstaltung der organisatorischen Superlative“ ist darin zu lesen. Das Rennbüro im Camping-Anhänger, das vom Herrenberger Hundesportverein über Nacht gut bewachte Fahrerlager und nicht zuletzt die aus Holz selbst gebauten sanitären Anlagen für die Rennfahrer waren damals ein Novum in der Motocross-Szene. Verantwortlich für die Organisation war das Team um Horst Zeller. Für den damaligen Vorsitzenden kam nie infrage, sich selbst auf ein Motorrad zu setzen. „Ich habe lieber zugeschaut“, sagt er. Als eingefleischter Motocross-Fan, der heute noch regelmäßig in Holzgerlingen auf dem Schützenbühlring zuschaut, besuchte er zusammen mit anderen Mitgliedern schon in den 50ern und 60er Jahren viele Turniere. Irgendwann waren es so viele, dass das Team genug Erfahrung hatte, um zu wissen, „wie man Motocross macht“.

Um den MSC selbst war es zu der Zeit recht still. Die Fahrer nahmen zwar noch an auswärtigen Rennen teil und der Verein veranstaltete Ausflüge. Motorsportliche Aktivitäten gab es in Herrenberg aber nicht. Horst Zeller übernahm den Verein 1960, mit 24 Jahren, und wollte ihn wiederbeleben. Doch die finanziellen Voraussetzungen waren dafür nicht gerade optimal: „Wir hatten kein Geld mehr“, sagt er. Heute gibt es bei den jährlichen Ehrungen von der Vorsitzenden Silvia Barthel Plaketten für die Fahrer. Zu Zellers Zeiten war der Club so knapp bei Kasse, dass man auf alltägliche Dinge zurückgriff. Otto Walz bekam einmal einen Sektkübel, ein anderer Fahrer, Fritz Betzlbacher, wurde mit einem Kerzenständer geehrt.

Die Idee für das Rennen hatte Otto Walz bei einem Vereinsabend eingebracht. Und obwohl es um die Finanzen nicht gut stand, entschloss sich der MSC Herrenberg, den ersten Motocross im Gäu zu veranstalten. „Es war nicht so einfach“, erinnert sich Zeller. Zum finanziellen Aufwand kam der organisatorische hinzu. Der Weg zum Alten Rain über den Schlossberg war 1964 nicht asphaltiert, und vielleicht noch ein wenig schmaler als heute. „Es konnte nur ein Auto fahren, entweder rauf oder runter“, erinnert sich Zeller. Die Logistik zu transportieren sei daher sehr aufwendig gewesen. Sogar die Bundeswehr sei vor Ort gewesen, um am Tag des Rennens den Verkehr zu regeln. Auch andere Herrenberger Vereine, wie der Reitverein, der die abgesteckte Strecke ablief, oder der Musikverein, der für die Bewirtung zuständig war, halfen bei der Veranstaltung mit.

Dass das Rennen überhaupt stattfinden durfte, ist bis heute für Zeller ein Rätsel geblieben. Denn alle – auch die Stadt – wussten, dass das Gebiet am Alten Rain unter Naturschutz steht. Der ehemalige Vorsitzende geht davon aus, dass weder die Stadt Herrenberg noch das Landratsamt Böblingen auch nur im Entferntesten geahnt habe, worauf sie sich einließen. Spätestens als das Rennen vorbei war, wurde es jedem klar. Auf der Wiese habe es ausgesehen, „wie es nach einem Motocross halt aussieht.“ Otto Walz weiß noch: „Von einer Wiese war da nichts mehr.“

Für Naturschützer eine Horrorvorstellung. Für die Bevölkerung muss das Rennen aber ein spektakuläres Event gewesen sein. In besagtem Fachmagazin-Beitrag ist von 3000 Zuschauern die Rede. Die Kasse des Vereins füllte sich dadurch mit 3500 Mark – wenn auch nur kurz. Erst wurden die Sieger, Zweit- und Drittplatzierten bezahlt: Unter ihnen Otto Walz mit einem zweiten Platz in der 250er-Klasse und einem dritten Platz in der 500er-Klasse. Weil außerdem einige Ehrenamtliche noch entschädigt wurden, kam der Verein am Ende bei fast genau null Mark raus.

Horst Zeller sagt, er hätte das Rennen gerne wieder veranstaltet. Eine zweite Auflage des Herrenberger Motocross wurde vom Landratsamt aber aufgrund der Folgen für die Natur nicht mehr erlaubt. Horst Zeller und Otto Walz bleiben bis heute die Erinnerungen an das einmalige Motocross-Wochenende auf dem Alten Rain. Erst vor kurzem war Walz dort spazieren. Er sagt, er habe sich gleich an die Strecke mit dem ganzen Schlamm erinnert. Und: „Ich wusste genau die Stelle, wo es mich überschlagen hat.“

Eine Bildergalerie zum Motocross-Rennen von 1964 gibt es in der Mediathek auf der Homepage: www.gaeubote.de