„Der Ötzi wurde zu meiner Droge“

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Extremradfahrer Joachim Marquardt beim Ötztaler Radmarathon GB-Foto: SPORTOGRAF

Extremradfahrer Joachim Marquardt beim Ötztaler Radmarathon GB-Foto: SPORTOGRAF

Wenn andere Feierabend oder Mittagspause machen, schwingt sich Joachim Marquardt in den Sattel seines Fahrrads. Mehrfach schon hat der Herrenberger an Ultra-Langstreckenrennen teilgenommen, das „Race across Germany“ mit rund 1100 Kilometern nonstop bezeichnet der 55-Jährige als seinen bislang größten sportlichen Erfolg. Im Rahmen einer neuen Veranstaltungsreihe der Volkshochschule Böblingen-Sindelfingen hat Marquardt sich und seine Passion diese Woche einem kleinen Zuhörerkreis vorgestellt. „Käpsele der Region“ nennt sich diese neue, von der erst seit März für den Fachbereich VHS-Akademie zuständigen Dorothee Hermanni ins Leben gerufenen Reihe, die gerne außergewöhnliche Menschen aus der Region vorstellen möchte. Joachim Marquardt hat sie auf Vorschlag ihres Chefs, der begeisterter Mountainbikefahrer ist, eingeladen – und im Zuge des Podiumsgesprächs ihren ersten Gast als erstes gefragt, ob der sich selbst als „Käpsele“ sieht. „Wenn sie es so bezeichnen wollen: ja“, antwortete der von der Einladung geehrte Marquardt diplomatisch und ergänzte: „Ich weiß, was ich tue.“ Er weiß es als Sportler ebenso wie als Gründer eines Projektentwicklers in der Baubranche.

Sport hat der in Herrenberg aufgewachsene Joachim Marquardt schon sein ganzes Leben betrieben. Tennis, Surfen, Drachenfliegen, Ski und Snowboard – all das fiel ihm leicht, eine besondere Faszination auf ihn aber übte der Mountainbikesport im Schönbuch aus. Während eines dreijährigen beruflichen Aufenthalts in der Schweiz wurden seine Touren dann entsprechend länger. Damals legte sich Marquardt auch ein Rennrad zu, nachdem er das auf dem Dachträger seines Autos festgeschnallte Geländerad bei der Einfahrt in eine Tiefgarage zerstört hatte.

Auf den Geschmack von Radrennen brachte ihn dann 2001 der Gültsteiner Andreas Vischer, mit dem er gemeinsam beim Ötztaler Radmarathon starten wollte. „Die Generalprobe beim 230 Kilometer langen Mag-städter Radmarathon fiel verheerend aus, aber immerhin bin ich durchgekommen, nachdem man mich an der Labestation irgendwann rausgeworfen hatte, weil ich die ganzen Brötchen weggefuttert habe“, erinnert sich Marquardt. Auch der anschließende Ötztaler geriet zur Höllentour, doch auch hier blieb Marquardt eisern und kam nach über zwölf Stunden ins Ziel. „Damals wurden mir zwei Dinge klar. Erstens: Das Mentale entscheidet, die Beine müssen funktionieren. Und zweitens: Ich erhole mich bei Abfahrten immer sehr schnell.“ Wichtig sei auch, auf die Signale des Körpers zu horchen, und ein Rezept, sich trotz körperlicher Erschöpfung weiter anzuspornen. Und mental motiviert zu bleiben, sich in solchen Situationen nicht auf das Erreichen der nächsten Passhöhe, sondern auf die nächste Spitzkehre, die nächsten zehn Meter oder den nächsten Atemzug zu konzentrieren. „So machen wir es auch im Geschäft. Man kann mit jedem Thema umgehen, aber man erfährt es nur, wenn man an Grenzen stößt“, sagt Joachim Marquardt zum kleinteiligen Herunterbrechen eines Problems.

Der Ötztaler mit seinen rund 240 Kilometern und 5500 Höhenmetern wurde für Marquardt fortan zu einer Droge, zehn Jahre nahm er in Folge teil und könnte dieses Rennen heute fast schon im Schlaf fahren. Doch die Ultrarennen, die der Herrenberger seit rund fünf Jahren bestreitet, sind nochmal ganz andere Hausnummern. Training und Ernährung müssen dort in einem Jahresplan fest- und eingehalten werden, jeder Tag ist genauestens durchgetaktet und mit den beruflichen Terminen abgestimmt. Marquardt lässt sich deshalb auch professionell von einer Agentur unterstützen, zehn bis 15 Stunden wöchentlich investiert er dazu in sein Training. Dass er dabei vieles richtig macht, zeigt sich am Erreichen seiner Ziele: Nur einmal in seiner sportlichen Karriere hat er ein Rennen abbrechen müssen. „Das war 2018 beim ’Race across the Alps’, da hat mein Magen rebelliert und jegliche Aufnahme von Flüssigkeit oder Nahrung verweigert. Einen technischen Defekt habe ich dafür noch nie gehabt“, erzählt Marquardt. Bei der Teilnahme in diesem Jahr (wir berichteten) lief es während der 32 Stunden über 14000 Höhenmeter auf einer Gesamtstrecke von 560 Kilometern für ihn wieder rund, auch seine Frau Britta Machnik und der zum Rennteam zählende Freund aus Jugendtagen, Volker Gnau, hatten daran ihren Anteil.

Dass solche Ultrarennen vor allem eine mentale Herausforderung darstellen, belegt unter anderem auch Marquardts Teilnahme 2017 am „Race across Germany“ von Flensburg nach Garmisch-Partenkirchen. Erst auf den letzten 50 der rund 1100 Kilometern hörte es damals auf zu regnen, durchhalten ließ sich die Nonstop-Fahrt nur durch automatisierte Abläufe beim Bekleidungswechsel nach kurzen Schlafpausen. Joachim Marquardt hält es da wie der Extremschwimmer Ross Egley, der 2018 in 157 Tagen Großbritannien auf einer Strecke von 3200 Kilometern umschwamm: „Man muss so naiv sein, alles zu beginnen, und den Willen haben, alles zu beenden.“ THOMAS VOLKMANN

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Erstellt:
5. Oktober 2019

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