Der Polarisierung etwas entgegensetzen

Längst hat „Lampedusa Calling“ seinen Aktionsradius erweitert und die Grenzen Herrenbergs und des Gäus überschritten. Das Begegnungsprojekt stieß schon in Böblingen und Freiburg auf große Resonanz und wird ab dem heutigen Samstag, 21. September, für acht Tage in Stuttgart zu Gast sein. Ein Abschlussprojekt in Herrenberg im April könnte dann der letzte Termin sein, an dem zumindest einer der beiden Container hier in Aktion erlebt werden kann – sollte das Projekt keine weitere Förderung erfahren.

Von Holger Weyhmüller

Lesedauer: ca. 3min 16sec
Momentaufnahmen von den beiden „Lampedusa Calling“-Containern im Einsatz GB-Fotos: gb

Momentaufnahmen von den beiden „Lampedusa Calling“-Containern im Einsatz GB-Fotos: gb

Es ist gar nicht so einfach, mit möglichst wenigen Worten zu beschreiben, was in „Lampedusa Calling“ so alles drinsteckt. Barbara Lohner versucht es dennoch: „Es handelt sich um ein Begegnungsprojekt auf vielen Ebenen, bei dem es vor allem um politische Bildung und Demokratie geht.“ Lohner ist Diplom-Pädagogin und zusammen mit Johannes Schmied hauptamtlich für das Projekt verantwortlich. Beide sitzen in den Räumen des Herrenberger Stadtjugendrings in der Marienstraße 21. So lange das Projekt noch gefördert wird. Stand heute also bis August kommenden Jahres.

Am Anfang stand eine große Katastrophe: Im April 2015 kenterte vor der italienischen Mittelmeerinsel Lampedusa ein völlig überbelegtes Schiff mit Flüchtenden, die von Afrika nach Europa wollten. Rund 500 Menschen dürften nach Schätzungen bei dem Unglück ums Leben gekommen sein. „Damals wurden wir von der Herrenberger Volkshochschule angesprochen“, erinnert sich Stefanie Hiesel, Geschäftsführerin des Herrenberger Stadtjugendrings, im „Gäubote“-Gespräch zurück – es sollte im Zusammenhang mit dieser Tragödie eine Ausstellung auf die Beine gestellt werden.

Die Saat für das Projekt war gelegt. Doch das, was schließlich daraus erwuchs, wurde größer und größer. Denn eine Ausstellung erschien angesichts des Ausmaßes der Katastrophe doch zu wenig wirkungsvoll. Und dann gab es da ja recht plötzlich noch veränderte Rahmenbedingungen in Herrenberg: Bald wurden Pläne bekannt, nach denen in der Gäustadt eine Landeserstaufnahmestelle (Lea) eingerichtet werden sollte, und zwar im ehemaligen IBM-Bildungszentrum Richtung Nufringen.

Der Kreis der Beteiligten wuchs. Aus einer geplanten Ausstellung wurde schließlich ein breit aufgestelltes Beteiligungs- und Integrations-Konzept. Und als Förderanträge gestellt und mit den Mitteln unter anderem jeweils auf 60-Prozent-Basis Barbara Lohner und Johannes Schmied eingestellt waren, veränderten sich ein neuerliches Mal die Rahmenbedingungen: Von einer Lea in Herrenberg war plötzlich keine Rede mehr.

Die Diplom-Pädagogin und der Betriebswirt ließen sich nicht ins Bockshorn jagen – und arbeiteten trotz der veränderten Situation weiter. „Wir fragten uns dann: Was ist der Bedarf?“, erinnert sich Hiesel. Klar war, der Polarisierung im Bereich Migration und Integration etwas entgegenzustellen. Lohner: „Wir haben versucht, das sozialwissenschaftlich zu untermauern.“

Im Kern stand schließlich irgendwann die Idee, zwei Container auf die Beine zu stellen – einen für Begegnungen, einen für Kunst. Und die Tragödie im Mittelmeer, an die erinnert nach wie vor der Name: „Lampedusa Calling.“ Die beiden Container – es handelt sich um handelsübliche Schiffscontainer – freilich haben Lohner, Schmied und Hiesel nicht alleine umgebaut: Zahlreiche Ehrenamtliche gingen ihnen zur Hand (der „Gäubote“ berichtete mehrfach). Inzwischen umfasst das Kernteam von „Lampedusa Calling“ etwa 25 Personen, die sich intensiv einbringen. Oft mit dabei ist etwa Anna Kamenik. Die 22-Jährige aus Gäufelden studiert in Tübingen Erziehungswissenschaft und kam im Februar vergangenen Jahres zu „Lampedusa Calling“.

Um die Container mit Inhalt zu füllen, haben die Beteiligten ein Programm entwickelt – beispielsweise mit Workshops, Musik, Tanz, Mitmachaktionen, Filmen, Vorträgen und vielem mehr. Alles dreht sich im Wesentlichen um die Kernpunkte des Projekts: Begegnung, Werte, Flucht, Migration, Integration, Inklusion.

Die Idee und ihre Umsetzung trug rasch Früchte und wurde in die Welt getragen, so dass sich bald Institutionen aus anderen Städten meldeten und ihr Interesse an „Lampedusa Calling“ bekundeten. So wurden die beiden Container in den vergangenen Monaten schon nach Böblingen und Freiburg transportiert – und jüngst nach Stuttgart: Ab dem heutigen Samstag, 21. September, stehen sie auf dem Pariser Platz im Europaviertel hinter dem Hauptbahnhof. Die Aktionswoche dauert acht Tage.

Und so werden bis zum 28. September noch viele weitere zu den bislang rund 12 000 Besuchern von „Lampedusa Calling“ dazukommen. „Hier treffen Professoren und Menschen mit Handicap aufeinander, Menschen, die schlecht deutsch sprechen auf solche, die der Meinung sind, dass immer nur etwas für Geflüchtete getan werde“, hat Barbara Lohner in den vergangenen Monaten erfahren. „Wir praktizieren hier Begegnung hardcore“, ergänzt Johannes Schmied, „alle Menschen sind hier auf einen Schlag in einem Topf. Spätestens dann kriegen sie mit, was wir meinen.“ Denn Vielfalt und Begegnung seien „harte Arbeit“, versichert Lohner.

Und wenn auch die mit Abstand meisten Begegnungen positive waren, so haben die Macher doch auch das eine oder andere Mal mit schwierigeren Situationen zu tun gehabt. Lohner: „Es gab auch schon körperliche Angriffe, es eskalierte aber nie.“ Das Schöne daran: Viele Leute, die wegen des Themas mit Vorbehalten auf sie zugekommen seien, „blieben oft länger, als sie ursprünglich eigentlich wollten“.

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Erstellt:
21. September 2019

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