Die Kleinste beeindruckt den Olympia-Teilnehmer
Sie ist elf Jahre alt, 1,44 Meter groß. Nicht gerade die besten Voraussetzungen, um beim Klettern gegen Erwachsene die Oberhand zu behalten. Analilia Stumpf aus Gärtringen ist aber genau das gelungen: Sie holte sich in Köln den Titel in der Zweiten Boulder-Bundesliga. Und beeindruckte damit nicht nur Jan Hojer, Deutschlands erfolgreichsten Kletterer und Medaillenhoffnung für die Olympischen Spiele 2020 in Tokio.
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Analilia Stumpf behielt beim Finale im Kölner Stuntwerk die Nerven GB--Foto: Patrick Becker/Boulder-Bundesliga
Die Boulder-Bundesliga ist eine Wettkampf-Serie, bei der Teilnehmer aus ganz Deutschland an elf Stationen das Jahr über in einer Individualwertung Punkte sammeln. Altersoffen ab sieben Jahren, waren allein in der zweiten Liga der Frauen über 300 Athletinnen am Start. Ein ausgeklügelter Algorithmus gibt Auskunft über die Schwierigkeit der Probleme, die es stets zum Ziel haben, den Topgriff in etwa 4,50 Meter Höhe zu erreichen. Je weniger Kletterern das im ersten Versuch – dem sogenannten Flash – oder überhaupt gelingt, desto mehr Punkte bringt der Boulder. Meist sind dazu sehr komplexe, immer andere Bewegungsabläufe im Kampf gegen die physikalischen Kräfte nötig.
Analilia Stumpf war das bei den elf Stationen von Tübingen (der „Gäubote“ berichtete) über München bis Bremen sehr gut gelungen. Nach 165 Bouldern hatte sie sich als Dritte der zweiten Liga für den finalen Spieltag im Kölner Stuntwerk qualifiziert – dem deutschen Boulder-Mekka, in das Simon Stützer, Gründer und Manager der Boulder-Bundesliga, jeweils die besten 100 Männer und Frauen der ersten und zweiten Liga eingeladen hatte. Nach zehn Problemen stand fest: Analilia – kurz: Ana – Stumpf stand als Dritte im Finale der besten sechs Athletinnen. Ihr Saisonziel hatte sie damit schon erreicht, nachdem sie im Vorjahr mit dem siebten Platz an dem Ereignis vor gut 400 Zuschauern in der Halle und Tausenden im Live-Stream auf YouTube nur denkbar knapp vorbeigeschrammt war.
Zuschauermassen schüchtern
Stumpf nicht ein
Simon Stützer und Jan Hojer kommentierten nun diesen Live-Stream. Hojer ist Deutscher Meister, war Europameister und Gesamt-Weltcup-Sieger im Bouldern. Der 27-jährige Profi ist neben Alexander Megos die Medaillenhoffnung des deutschen Klettersports bei Olympia 2020 in Tokio. „Ich bin vor allem gespannt, was Ana Stumpf heute zeigen wird“, sagte Hojer angesichts der Menschenmenge in der Halle und an den Bildschirmen. „Ich freue mich darauf, zu sehen, wie sie damit umgehen wird.“ Klettern hatte er die kleine Gärtringerin noch nicht gesehen. Dass die Sechstklässlerin des Herrenberger Schickhardt-Gymnasiums alles andere als eingeschüchtert war, machte sie dem Profi indes schnell deutlich.
Mit 1,44 Metern war Ana Stumpf die kleinste der Athletinnen, mit elf Jahren die jüngste. „Sie ist eine Frohnatur, die sich nichts daraus macht“, meinte Simon Stützer. Zum Beweis erklomm die Gärtringerin gleich zu Beginn wie vier ihrer Kontrahentinnen den zu einfachen ersten Boulder. An ihm ließ lediglich die nach der regulären Saison führende Nele Geis (19) aus Dortmund Federn. Mit ihrem Top im zweiten Versuch landete sie daher später auf dem sechsten Platz. Die Entscheidung brachte der zweite Boulder. Bei diesem sogenannten Renner mussten die Athletinnen erst Schwung holen, um über zwei an die Wand geschraubte Blöcke an der Wand entlang im 40-Grad-Winkel von links unten nach rechts oben zu rennen, ehe man sich gegen einen breiten Griff über dem Kopf mit den Händen pressen konnte. Doch der Weg dahin stellte sich als tückisch heraus: Die beiden Blöcke, ein großer und ein kleinerer, hatten eine Lücke zwischen sich, gleichzeitig rutschten viele auf der schiefen Oberfläche ab. Keine der Boulderinnen überwand dieses Hindernis im ersten Versuch. Nun tickten die acht Minuten, die allen gemeinsam zur Verfügung standen, von der Uhr herunter. Der zuvor sechstplatzierten Mathilde Klemen, eine 17-jährige Erfurterin, gelang es im dritten Versuch. Zwar lobten Stützer und Hojer Ana Stumpfs immer besser werdende Versuche. Doch die Zeit schien gegen sie zu laufen. „Ich hoffe, dass es nicht ihr letzter Versuch ist“, meinte Hojer nach ihrem sechsten. Nur knapp hatte sie die Balance verloren.
Mit der Schlusssekunde stieg die bis dahin Fünfte Karla Schmitz-Kolkmann, eine 15-jährige Kölnerin, in das Problem noch einmal ein. „Ich muss mich bei ihr bedanken“, sagte Ana Stumpf später in einem Interview. Denn nur so war der Gärtringerin ein letzter Versuch gegönnt. Und sie machte das Beste daraus. Die Elfjährige kam auf dem zweiten, kleineren Block zum Stillstand, richtete sich unter den lauten Jubelschreien der Zuschauer auf und kletterte zum Top. „Wahnsinn, das gibt’s doch nicht“, meinte Stützer. „Unglaublich, wie sie da die Nerven behalten hat“, ergänzte Kletterprofi Hojer. „Mit elf Jahren habe ich gerade angefangen zu klettern“, erzählte er weiter. „Wenn ich mir vorstelle, in dem Alter bei so einem Wettkampf zu wissen, die Zeit ist abgelaufen, ich habe nur noch einen Versuch, und dann so die Nerven zu behalten – wirklich beeindruckend.“
Die Nerven behielt Ana Stumpf dann auch beim letzten Boulder, flashte ihn und holte so aufgrund des besseren Saisonergebnisses den Titel nach Gärtringen. Frech hatte sie Jan Hojer vor dem Wettkampf gebeten, mal mit ihr zu trainieren, wenn sie es aufs Treppchen schaffen würde – der 27-Jährige sagte noch während des Live-Streams zu. Die Chance, den Profi noch einmal zu beeindrucken. Nur seine Bitte solle sie dabei beherzigen, meinte Simon Stützer: „Pass auf ihn auf, er ist schon etwas älter und muss noch zu Olympia.“-gb-