Im Mittelpunkt stehen die Begegnungen

Als Referent für Inklusion und Diakonische Gemeindeentwicklung beim Diakonischen Werk der Evangelischen Kirche ist der in Ehningen lebende Theologe Rainer Scheufele auch für die 30 Vesperkirchen in Württemberg zuständig. Der „Gäubote“ sprach mit ihm über das Herrenberger Projekt „Auf dem Weg zur Vesperkirche“, dem die diesjährige „Gäubote“-Weihnachtsaktion des Arbeitskreises Miteinander – Füreinander gewidmet ist.

Von Jutta Krause

Lesedauer: ca. 3min 15sec
Rainer ScheufeleGB-Foto: gb

Rainer ScheufeleGB-Foto: gb

„Gäubote“: Sie sind beim Diakonischen Werk

für die Begleitung der Vesperkirchen zuständig. Was umfasst diese Aufgabe?
Rainer Scheufele: „Als Ansprechpartner für Vesperkirchen ist es meine Aufgabe, eine Plattform für Begegnungen und Austausch anzubieten, interessante Infos weiterzuleiten, Kontakte untereinander zu vermitteln und den Kontakt zu Landeskirche und Diakonischem Werk zu halten. Jedes Jahr organisiere ich zudem einen Fachtag, an dem die Teilnehmer ein bestimmtes Thema gemeinsam erarbeiten, etwa die Fragestellung, ob Vesperkirche ein Modell sein kann für die Kirche der Zukunft.“

Wie haben sich die Vesperkirchen seit ihrer „Erfindung“ durch Pfarrer Martin Friz entwickelt?

„1995 fand die erste Vesperkirche in Stuttgart statt, 1996 kamen Ulm und Göppingen hinzu. Seither ist die Zahl deutlich angestiegen auf 30 in Württemberg und vier in Baden. Inzwischen gibt es Vesperkirchen auch außerhalb Baden-Württembergs. Auch inhaltlich haben sich die Vesperkirchen weiterentwickelt, inzwischen gibt es viele zusätzliche Angebote wie Friseur, ärztliche Untersuchungen, Beratungsmöglichkeiten und kulturelle Angebote.

Was denken Sie, womit der Anstieg zu tun hat?

„Die Idee überzeugt die Leute, weil man hier etwas anbietet, was über Suppenküchen und Armenspeisung hinausgeht. Die ursprüngliche Idee war, Menschen aus den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten zusammenzubringen, ihnen für eine gewisse Zeit eine Art Heimat zu bieten und dadurch zugleich auf das Thema Armut bei uns im Land aufmerksam zu machen.“

Was ist Ihrer Meinung nach die wesentliche

Bedeutung von Vesperkirchen?

Welche Aufgaben erfüllen sie?

„Vesperkirchen sind Orte, an denen so viele unterschiedliche Menschen wie selten irgendwo anders in Berührung miteinander kommen. Dabei steht nicht die Verpflegung von Armen im Mittelpunkt, sondern die Begegnung. Zum einen die Begegnungen zwischen Ehrenamtlichen und Gästen, aber dann ist auch ganz bewusst gewollt, dass an den Tischen Menschen mit unterschiedlichem sozialem Hintergrund ins Gespräch kommen. Wichtig ist auch, das politische Signal, aufzuzeigen, wie in unserer Gesellschaft die Kluft zwischen Arm und Reich auseinandergeht und dass es auch bei uns Armut gibt und Menschen, die wenig finanziellen Spielraum haben. Viele Leute haben keine Berührungspunkte mit Armut und können sich das gar nicht vorstellen. Im Gespräch mit Menschen, die davon betroffen sind, nimmt man das anders wahr. Einsamkeit ist auch ein großes Thema. Es gibt viele Leute, die in die Vesperkirche kommen, weil sie zu Hause allein wären. Für sie ist es wichtig, unter die Leute zu kommen.“

Im Zuge Ihrer Tätigkeit haben Sie schon

einige Vesperkirchen besucht:

Was ist Ihr allgemeiner Eindruck?

„Jede Vesperkirche ist individuell verschieden, das hängt immer von den Rahmenbedingungen vor Ort ab: Wie lang sie dauert, ob bedient wird oder die Leute sich das Essen holen, was es als Rahmenprogramm gibt. Das ist sehr unterschiedlich, aber überall herrscht eine sehr angenehme Atmosphäre. Vor allem, wenn es in einem Kirchenraum stattfindet, das erzeugt eine ganz besondere Stimmung.“

Gibt es Begegnungen oder Erlebnisse, die Sie

besonders beeindruckt oder berührt haben?

„Jede Begegnung hat ihren Wert, die einzelnen Gespräche sind sehr wichtig. Einmal bin ich mit einer jungen Frau ins Gespräch gekommen und dachte, sie hilft vielleicht mit. Später erzählte sie mir, sie sei seit einem Jahr arbeitslos und hätte nie gedacht, sie würde mal in eine Vesperkirche gehen. Da spürt man, wie die Menschen auf der Suche sind und wie schnell jemand, der mitten im Leben stand, draußen ist. Man vereinsamt, weil man nicht mehr mithalten kann. Eine andere Frau, die mit ihren Kindern da war, sagte, sie sei noch nie bedient worden und selten an einem so schön gedeckten Tisch gesessen. Zu erleben, was das für sie bedeutete, war bewegend.“

Was halten Sie von der Idee, in Herrenberg

eine Vesperkirche ins Leben zu rufen?

„Ich finde das eine Super-Idee! Es muss allerdings ein Projekt sein, hinter dem die Gemeinde steht und für das man auch außerkirchliche Partner wie etwa Vereine gewinnen kann. Dann kann es zum gesamtgesellschaftlichen Projekt werden, das für das ganze Gemeinwesen Bedeutung hat, weil es die Menschen zusammenbringt.

Wie kann Vesperkirche sich auf das

Gemeinwesen auswirken?

„Man lernt dort Menschen kennen, mit denen man sonst nie zusammentreffen würde. Wenn man ihnen dann später an einem anderen Ort begegnet, läuft man vielleicht nicht mehr aneinander vorbei, sondern sagt hallo und wechselt ein paar Sätze miteinander. Natürlich kann man damit nicht die Armut bekämpfen, das ist auch nicht das Ziel. Aber die Menschen, die dort sind, lassen sich vielleicht ein bisschen verändern durch die Begegnungen.“

Im Mittelpunkt stehen die Begegnungen

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Erstellt:
14. Dezember 2019

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