Rette sich, wer kann – vor dem Bezirk Stuttgart

Fußball: Umsetzung der WFV-Strukturreform bringt gravierende Änderungen für den Spielbetrieb der nächsten zwei Jahre im noch existierenden Bezirk Böblingen/Calw mit sich. Wohin Absetzungsbewegungen einzelner Vereine führen werden, ist noch unklar.

Von Andreas Gauss

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Infoabend des Bezirks Böblingen/Calw über die WFV-Strukturreform: Die Mienen der Böblinger Vereinsvertreter in der Rohrdorfer Gemeindehalle waren überwiegend skeptisch. GB-Foto (Archiv): gb

Infoabend des Bezirks Böblingen/Calw über die WFV-Strukturreform: Die Mienen der Böblinger Vereinsvertreter in der Rohrdorfer Gemeindehalle waren überwiegend skeptisch. GB-Foto (Archiv): gb

Am morgigen Freitag veranstaltet der Bezirk Böblingen/Calw in der Emminger Gemeindehalle seinen Staffeltag (20 Uhr). Dabei werden den Vertreten von über 100 Fußballclubs im Bezirk auch die Auswirkungen der im Mai beschlossenen Strukturreform des Württembergischen Fußballverbands (WFV) erläutert. Wie mehrfach berichtet, werden die Clubs aus dem Landkreis Böblingen dem Bezirk Stuttgart zugeschlagen, die Calwer Vereine schließen sich dem kleinen Bezirk Nördlicher Schwarzwald an. Die Auswirkungen der Auflösung des hiesigen Bezirks bis zum Spieljahr 2024/25 sind gravierend. Nachfolgend eine Analyse, wie es zu dieser Entscheidung kommen konnte, warum so wenig dagegen unternommen wurde und wie jetzt Vereinsverantwortliche und Bezirksfunktionäre ins Grübeln kommen, welcher von den beiden neu geschaffenen Bezirken für sie nun der richtige sein wird.

Die Ausgangslage

Viele Vereinsvertreter aus dem Kreis Böblingen haben sich nach der Entscheidung des außerordentlichen Verbandstags am 25. Mai in der Stuttgarter Carl-Benz-Arena (wir berichteten) den Kopf zerbrochen, warum eigentlich ihr Bezirk, der den Spielbetrieb seit 1965/ 66 zuverlässig und relativ konfliktfrei organisiert hatte, nun in zwei Teile zerrissen werden soll. Der Verband hat zwei Hochglanzbroschüren erstellt und in etlichen Konferenzen und Versammlungen die Notwendigkeit untermauert, dass von bislang 16 Bezirken nur noch zwölf gebildet werden müssen. Die Hauptbegründung war, dass der Spielbetrieb auch in kleinen Bezirken wie Zollern (83 Mannschaften), Riß (104) und Nördlicher Schwarzwald (106) auf Dauer aufrecht erhalten werden kann. Mit 159 Mannschaften im Spielbetrieb (Stand im Jahr 2019) wähnte sich der Bezirk Böblingen/Calw auf der sicheren Seite.

Mittlerweile ist klar, dass der Bezirk Stuttgart in den vergangenen Jahren Gefahr lief, zum „Problembezirk“ zu werden. Denn der Bezirk, mit dem VfB Stuttgart als Aushängeschild, hatte vor rund 20 Jahren im Spielbetrieb noch sieben B-Liga-Staffeln und drei A-Liga-Staffeln (2003/04) aufzuweisen. Bis zur jüngsten Saison 2021/22 sind den Stuttgartern aber rund 45 bis 50 Mannschaften verloren gegangen. Nur noch fünf B-Liga-Staffeln bilden den Unterbau für zwei A-Liga-Staffeln. Damit ist der Bezirk Stuttgart „kleiner“ als Böblingen/Calw. Im hiesigen Bezirk sind es schon seit etlichen Jahren kontinuierlich sechs B-Liga-Staffeln und zwei A-Ligen.

Wenn nun durch die Reform einige Bezirke rund um Stuttgart weiter aufgewertet respektive bei den Mannschaftszahlen zulegen werden, droht dem Vorzeigebezirk im WFV die Rolle, bald als einer der kleinsten Bezirke im Verbandsgebiet zu gelten – was die Mannschaftszahlen angeht. Der Plan, durch die Zuordnung der Böblinger Vereine (rund 50 Clubs) den Bezirk Stuttgart aufzuwerten, lag nach Ansicht von Richard Armbruster (Bondorf), dem früheren Bezirksvorsitzenden von Böblingen/Calw, „schon länger in der Schublade“. Über die Trennung wurde freilich nur in der Strukturkommission gesprochen. Direkt mit den Bezirksverantwortlichen aus Böblingen/ Calw und Hohenlohe (auch ein Bezirk, der aufgeteilt wird) wurde nicht mehr verhandelt.

Die sportlichen Folgen

Die Fußballvereine interessieren sich naturgemäß nur bedingt für Verbands- oder Bezirksbelange. Wenn der Spielbetrieb einigermaßen reibungslos funktioniert, wird lediglich vor der eigenen Haustür gekehrt. Welche Trainer passen zum Club, was für Spieler benötige ich für eine erfolgreiche Saison, wer kümmert sich um das Drumherum? Dass man es jetzt ab der Saison 2024/25 mit bislang „unbekannten Vereinen“ zu tun bekommt, tangiert die Vereine, die höherklassig spielen wollen – in der Landes- oder Bezirksliga.

Wenn man in der Landesliga beginnt, dann betrug die Zahl der „Böblinger Vereine“ zuletzt sechs Mannschaften. Abgestiegen sind nun aber die Spvgg. Holzgerlingen und der TV Darmsheim. Mit Aufsteiger SV Deckenpfronn sind es aber immerhin noch fünf Kreisvereine. Ab der Saison 2024/25 wechseln diese Vereine in den neuen Bezirk Böblingen/Stuttgart – und spielen dann in der Staffel 2 der Landesliga, vorausgesetzt sie schaffen zwei Jahre hintereinander den Klassenerhalt. Dort fallen die Vereine aus dem Bezirk Donau/Iller heraus, momentan nur drei Vereine. Das heißt, wenn es 2024/ 25 noch vier oder fünf Vereine aus Böblingen sind, dürften sie in der Landesliga-Staffel 2 gleich einmal mit einem verschärften Abstieg rechnen können, da die Soll-Zahl von 16 Clubs in dieser Landesliga-Staffel wohl nicht eingehalten werden dürfte. Und auch das sportliche Niveau dieser Staffel, zu der auch der große Bezirk Ostwürttemberg gehört, ist ein anderes, als in der ländlich geprägten Landesliga-Staffel 3 mit den Vereinen aus den Kreisen Rottweil, Tuttlingen oder Freudenstadt. Ein ehemaliger Gültsteiner Stürmer erinnerte sich unlängst an Partien aus Zeiten der II. Amateurliga in den 60er Jahren: „Auf der Ostalb weht ein rauer Wind.“

Erst kurz vor dem außerordentlichen Verbandstag gab der WFV in Bezirksdialog-Versammlungen bekannt, wie sich der Übergang für die Bezirksliga auswirkt. Die beiden aufnehmenden Bezirksligen von Nördlicher Schwarzwald und Stuttgart werden auf zwölf Vereine reduziert. Der aufzuteilende Bezirk Böblingen/Calw ebenfalls. Aber das bedeutet, dass bei einer ungefähr gleichen Verteilung von Böblinger und Calwer Vereinen maximal „nur“ sechs oder sieben Vereine aus dem Kreis Böblingen einen Platz in der neuen Bezirksliga Böblingen/Stuttgart ergattern dürften. Dasselbe gilt auch für die Calwer Vereine. Im Umkehrschluss heißt das, dass einige Vereine in zwei, drei Jahren ihre gewohnte Spielklassen-Umgebung, also Landesliga oder Bezirksliga, nicht werden halten können. Den VfL Herrenberg, der seit zwei Jahren in der Bezirksliga nur im Mittelfeld angesiedelt ist, könnte es zum Beispiel treffen. Wenn zwei Jahre lang hintereinander aus der Bezirksliga immer fünf Mannschaften (also insgesamt zehn Teams) absteigen werden, könnte sich der VfL unverhofft in der Saison 2024/25 in der Kreisliga A wiederfinden. Diese Gefahr besteht.

Der geschilderte Mehrabstieg aus der Bezirksliga trifft auch die Kreisligen A1 und A2. In diesen beiden Ligen wird es ab der kommenden Saison 22/23 ebenfalls zu einem Mehrabstieg kommen, mindestens fünf Clubs werden in die Kreisliga B gereicht. Aufgrund der Mehrabstiege aus den übergeordneten Ligen wird es für ambitionierte Clubs aus der Gäu-Liga der B4, wie die SF Kayh, dem TV Gültstein oder auch die neu gegründete SG Gäufelden, schwerer werden, in den nächsten Jahren den Aufstieg in die A-Liga zu realisieren beziehungsweise sich nach einem Aufstieg obenzuhalten. Sprich: Die Auswirkungen der Reform zieht sich im Grunde durch alle Spielklassen.

Spielbetrieb unter der Woche

Viele Böblinger Vereine äußerten beim Informationsabend des Bezirks in Rohrdorf im April gegenüber dem WFV-Vertreter Harald Müller (Spielausschussvorsitzender) die Befürchtung, dass Auswärtsfahrten in der Bezirksliga etwa an Wochentagen verkehrstechnisch in den Stuttgarter Talkessel schwer kalkulierbar wären. In der Bezirkspokalrunde betrifft dies aber (fast) alle Böblinger Vereine. Angenommen, man spielt die ersten beiden Pokalrunden noch in einem Böblinger Gebiet, wird spätestens ab der dritten Runde auch gegen respektive bei Stuttgarter Clubs gespielt. Und ein Blick auf die letztjährigen Pokal-Termine unterstreicht, im Bezirk Stuttgart wurden von der dritten Runde bis zum Halbfinale die Partien ausschließlich an Werktagen ausgetragen (14./15. September, 26. Oktober, 5. April und 19. April).

Die Verantwortlichen in der Vereinsjugend von Böblinger Clubs trieb zuletzt die Sorge um, dass auch etwa in einer Bezirksstaffel der D-Jugend Auswärtsfahrten nach Stuttgart anfallen würden. In Rohrdorf meinte Müller, die Reform verteidigend: „Man könnte sich auch vorstellen, im Bereich Böblingen eine eigene Bezirksstaffel zu spielen.“

Unterm Strich ist es eher wahrscheinlich, dass ab der Saison 2024/25 sowohl in der Landesliga-Staffel 2 als auch in der Bezirksliga Böblingen/Stuttgart einige Englische Wochen mit dem Spielrhythmus Sonntag-Mittwoch-Sonntag gespielt werden dürften und somit das verkehrstechnische Problem ungelöst bleibt.

Zukunft „im Schwarzwald“?

Eine interessante Variante zur Gestaltung des Spielbetriebs ergibt sich beim neuen Bezirk Nördlicher Schwarzwald/ Calw. Denn die Clubs aus Horb und Freudenstadt haben sich in den vergangenen Jahren zum Teil vehement für die Beibehaltung des Reservespielbetriebs eingesetzt – auch in der Kreisliga A. Im Kreis Böblingen sieht es dagegen schlecht aus. Einige Gäuvereine, unter anderem der TV Nebringen, taten sich zuletzt schwer, als A-Ligist eine zweite Mannschaft in Konkurrenz am Laufen zu halten. Konsequenz: Der TVN hat für die kommende Saison gleich als „Flex-Mannschaft“ gemeldet, sprich die jeweiligen Gegner von Nebringen II in der Kreisliga B6 müssen sich darauf einstellen, neun-gegen-neun zu spielen und dementsprechend das Spielfeld umzurüsten.

Da es so gut wie feststeht, dass der bisherige Bezirksvorsitzende von Böblingen/ Calw, Roland Ungericht (Rotfelden), im neuen Bezirk Nördlicher Schwarzwald/Calw eine Führungsrolle übernehmen wird, könnte es in den nächsten beiden Jahren von der Planung her zur Lösung der Reserveproblematik kommen. Denn in vielen B-Liga-Staffeln ist der Reservespielbetrieb mit nur noch zwölf oder 14 Spielen pro Saison eine Farce. Wenn man auch in der A-Liga wieder einen Reservespielbetrieb gewährleisten könnte, würden sich Vereine leichter tun, ausreichend Spieler am Wochenende zu rekrutieren. Schließlich fährt man dann bei Auswärtsspielen immer auf den gleichen Sportplatz. Bei entsprechender Planung von Ungericht und Co. könnte so im neuen Bezirk ein weitaus reibungsloserer Spielbetrieb zustande kommen.

Welcher Verein wechselt?

Seit dem Reform-Beschluss schießen die Gerüchte über Wechselabsichten von „Böblinger Vereinen“ ins Kraut. Bereits beim Info-Abend in Rohrdorf – wohlgemerkt noch vor dem Beschluss – haben Vereinsvertreter an der westlichen Peripherie des Landkreises Böblingen Überlegungen angestellt, eventuell die Zuordnung zum Bezirk Stuttgart zu vermeiden. Werner Szalay, Pressesprecher vom gerade in die Bezirksliga aufgestiegenen TSV Kuppingen meinte im April: „Wir sind auch nur zwei Kilometer von der Kreisgrenze entfernt.“ Eine ähnliche Nähe zum Kreis Calw äußerten auch die Spvgg. Aidlingen und der SV Deckenpfronn. Rudi Zeeb, Funktionär aus Aidlingen und seit Jahrzehnten in der Jugend als Staffelleiter aktiv, schlug zuletzt aber Alarm. Seines Wissens nach beobachte der WFV die Absetzbewegungen genau. Drei Vereinen würde man einen Wechsel in den Schwarzwald zugestehen, aber alle weiteren Vereine müssten ein Gespräch mit dem Verband führen. Zuletzt zeigte sich Zeeb enttäuscht über einen Austausch mit Funktionären des Bezirks Stuttgart: „Da sah es so aus, als ob sie unsere Hilfe gar nicht brauchen würden. Sie haben schon alle Positionen besetzt. Das sieht eher nach feindlicher Übernahme aus.“ Insgeheim hegt Zeeb eine Hoffnung: „Wenn 20 Vereine wechseln wollten, dann müsste der WFV noch mal überlegen, ob er nicht doch einem Zusammengehen der bisherigen Bezirke Böblingen/Calw und Nördlicher Schwarzwald zustimmen sollte.“

Ob der Verband eine solche Abwanderungswelle befürchtet, ist nicht ausgeschlossen. Denn hinter vorgehaltener Hand wird darüber gesprochen, dass sich wechselwillige Vereine bereits bis zum Ende dieses Jahres, also bis zum 31. Dezember 2022, beim Verband melden müssten. So gesehen läuft den Vereinen ein wenig die Zeit davon, denn das Motto „Rette sich wer kann – vor dem Bezirk Stuttgart“ müssen die Fußballverantwortlichen eigentlich auch mit ihren Spielern und Mitgliedern abstimmen. Was nur unterstreicht: Das Ende des Bezirks Böblingen/Calw wird in den nächsten Monaten und Jahren für einige Verwerfungen sorgen …

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Erstellt:
21. Juli 2022

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