Zwangssterilisierung per Injektion

Die Räume sind inzwischen leer, die Tür ist verschlossen: Seine grausigen Geheimnisse hütet Block 10 gut. Wäre da nicht Prof. Hans-Joachim Lang. Bei einem Vortrag in der KZ-Gedenkstätte Hailfingen-Tailfingen führte der Journalist hinter die Backstein-Mauern jenes Ortes im KZ Auschwitz, an dem 800 Frauen einst Opfer von NS-Menschenversuchen wurden.

Von Nadine Dürr

Lesedauer: ca. 2min 49sec
Hans-Joachim Lang: „Menschenrechte müssen ihre Wertmaßstäbe nicht aus der Negation des Bösen beziehen“ GB-Foto: Kuhn

Hans-Joachim Lang: „Menschenrechte müssen ihre Wertmaßstäbe nicht aus der Negation des Bösen beziehen“ GB-Foto: Kuhn

Durch die Tür von Block 10 betreten die Zuhörer das Gebäude und folgen Hans-Joachim Lang in einen „kalten, schummerigen, muffig riechenden Korridor“. Beklommen blickt man in die links und rechts liegenden Räume, die der Honorarprofessor auf seinem virtuellen Rundgang mithilfe von Bildern und Plänen erschließt: die beiden Säle im Obergeschoss, wo 400 weibliche KZ-Häftlinge auf dreistöckigen Holzpritschen eng an eng dahinvegetierten. Den Waschraum mit den 18 Wasserhähnen, vor dem die Frauen jeden Morgen ab 4.30 Uhr Schlange standen. Den Laborraum, in welchem man ihnen Blut für deutsche Soldaten abnahm – „Blut für verwundete Frontsoldaten. Judenblut!!“, wie eine der Betroffenen entgeistert feststellte.

Das eigentliche Grauen jedoch verbarg sich hinter einer Tür mit der Aufschrift „Röntgenraum“. Hier experimentierte Prof. Carl Clauberg ab April 1943 mit einer von ihm selbst erdachten Methode der Zwangssterilisierung. Die Injektion in die Gebärmutter – ein Kontrastmittel kombiniert mit verdünntem Formalin – sei für die Frauen eine Tortur gewesen, sagt Hans-Joachim Lang. Er zitiert die Betroffene Augusta Nathan: „Alle Gefühle wurden aufgelöst in den wahnsinnigen Schmerzen, man dachte nur eines: durchhalten, nicht daran kaputtgehen.“

Neben Clauberg nutzte auch Horst Schumann die Gelegenheit für medizinische Versuche in Block 10. Ohne Kenntnisse hinsichtlich der notwendigen Strahlungsdauer und -stärke erprobte der Arzt, der auch an der Aktion T4 in Grafeneck beteiligt war, eine Sterilisierung durch Röntgenstrahlen. Lang nennt etwa eine Versuchsreihe mit rund 30 Frauen, wobei der Arzt die Strahlendosis von Person zu Person erhöhte. „Für die Frau, die am Anfang dran war, ist es glimpflich ausgegangen“, erzählt der Germanist. „Doch den meisten bestrahlten Frauen wurde übel, sie erlitten teils schwerste Verbrennungswunden.“ Auf die Spur kam Lang zudem einer im Block 10 getesteten Apparatur, dem Kolposkop: Dieses soll der Früherkennung von Gebärmutterhalskrebs gedient haben. Und dann wäre da noch ein besonders dunkles Kapitel der Block-10-Geschichte: das Schicksal der 29 Frauen, die der Tübinger Anthropologe Dr. Hans Fleischhacker und sein Münchener Kollege Dr. Bruno Beger im Juni 1943 selektierten. „Sie wurden“, so Lang, „anthropologisch vermessen, zusammen mit 57 Männern Ende Juli 1943 ins KZ Natzweiler deportiert und dort in einer Gaskammer ermordet.“ Die Hintergründe: Anatomie-Professor August Hirt plante eine rassekundliche Schausammlung, für die er entsprechende Exponate benötigte. Ein Projekt, das scheiterte: Die Leichen der ermordeten KZ-Häftlinge tauchten nach der Befreiung im Keller des Anatomie-Instituts der Straßburger Reichsuniversität auf. Sie sind inzwischen auf dem jüdischen Friedhof in Straßburg beigesetzt. Hans-Joachim Lang konnte die Identität der Ermordeten feststellen, ein Grabstein mit Namen erinnert nun an sie.

Insgesamt 800 Frauen waren es, die zwischen April 1943 und Sommer 1944 durch den Block 10 geschleust wurden. Viele von ihnen starben später auf den Todesmärschen, nur rund 300 überlebten. Manche Frauen, so Lang, zerbrachen an dem Erlebten. Es werde von Suiziden berichtet und von verzweifelten Versuchen, die Sterilisierungen medizinisch wieder rückgängig zu machen – meist ohne Erfolg: „Jahrelange Konsultationen und Behandlungen brachten in der Regel nichts als zusätzliche körperliche und seelische Schäden.“

Die Geschichte dieser Frauen dem Vergessen zu entreißen – dieses Anliegen liegt der Arbeit Hans-Joachim Langs zugrunde. Seine Forschung will der Träger des Bundesverdienstkreuzes jedoch keinesfalls als Versuch missverstanden wissen, dem Leiden der Frauen einen Sinn zuzuschreiben. „Als Bekräftigung für grundlegende Menschenrechte und für eine medizinische Ethik bedarf es keines Orts wie Auschwitz“, betont der 68-Jährige am Ende seines Vortrags. „Menschenrechte müssen ihre Wertmaßstäbe nicht aus der Negation des Bösen beziehen. Menschenrechte begründen sich aus sich selbst.“

Zum Artikel

Erstellt:
29. Januar 2020

Sie müssen angemeldet sein, um einen Leserbeitrag erstellen zu können.