„Ort der Geborgenheit“ wurde zum Erfolgsmodell

Den Kirchenraum zum Begegnungsort machen, in dem Menschen aus allen Gesellschaftsschichten beim gemeinsamen Essen in Kontakt miteinander kommen können – das ist ein Unterfangen, das die Kirche zu ihren Wurzeln führen und zugleich in die Zivilgesellschaft ausstrahlen will. Bald auch in Herrenberg. „Auf dem Weg zur Vesperkirche“ ist die diesjährige Weihnachtsaktion des „Gäubote“ in Zusammenarbeit mit dem Arbeitskreis Miteinander – Füreinander überschrieben.

Von Jutta Krause

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Martin Friz, der 2011 im Alter von 67 Jahren gestorben ist, hat die Stuttgarter Vesperkirche gegründet GB-Foto (Archiv): Eppler

Martin Friz, der 2011 im Alter von 67 Jahren gestorben ist, hat die Stuttgarter Vesperkirche gegründet    GB-Foto (Archiv): Eppler

Der Stuttgarter Diakoniepfarrer Martin Friz hatte einen Traum. Ihn störte die Armut und Ungleichheit, die er überall um sich herum wahrnahm. Er wollte dem etwas entgegensetzen, ein Zeichen, das gesellschaftliche Probleme zwar nicht beheben, aber sichtbar machen kann und das aufzeigt, dass ein anderes Zusammenleben möglich ist. Einen Ort schaffen, an dem die „Mühseligen und Beladenen“ für eine Weile ihre Würde zurückbekommen und diejenigen, die besser dran sind, die Chance haben, Vorurteile zu überwinden und Gemeinsamkeiten zu entdecken. Von Friz stammt auch der Name „Vesperkirche“.

Als er seine Idee 1994 dem Kirchengemeinderat der Leonhardskirche vorstellte, hatte er schon ein Konzept parat: Das Projekt „Essen für Menschen in Not“ sah vor, die Kirche mehrere Wochen lang zu einem „Ort der Geborgenheit“ zu machen, in dem es für zwei Mark eine warme Mahlzeit sowie kostenlos Kaffee, Tee und Brote geben sollte. Dabei dachte er besonders an „Trümmerfrauen“, Alleinerziehende, Menschen ohne Kochmöglichkeiten in Sozialunterkünften und Obdachlose, doch war ihm die Durchmischung der Gesellschaftsschichten und der Kontakt auf Augenhöhe ein besonderes Anliegen. Den finanziellen Aufwand schätzte er auf 80000 D-Mark, für die Hälfte davon hatte er bereits Spendenzusagen. Nur drei Monate später öffnete die zentral in der Stuttgarter Innenstadt gelegene Leonhardskirche zum ersten Mal die Türen zum gemeinsamen „Vesper“. In dieser kurzen Zeit hatten zahlreiche Menschen ihre Mitarbeit angeboten, eine geeignete Küche und ein erfahrener Koch hatten sich ebenso gefunden wie die nötige Startfinanzierung. Der empfindliche alte Kirchenboden wurde mit Holzplatten abgedeckt, eine Stuttgarter Kaffeerösterei stiftete den ersten Kaffee und eine halbe Stunde vor Beginn des Eröffnungsgottesdiensts gelang es auch, einen Toilettenwagen anzuschließen.

Am ersten Tag kamen damals gerade einmal 70 Menschen zum Essen. Inzwischen zählt die Stuttgarter Vesperkirche in den sieben Wochen zwischen Januar und März täglich mehr als das Zehnfache an Gästen. Rund 850 Ehrenamtliche sorgen dafür, dass alle sich willkommen fühlen und es ihnen an nichts fehlt. Längst kommen die Besucher nicht mehr nur zum Essen in die Vesperkirche. Das Angebot hat sich in den 25 Jahren ihres Bestehens stetig erweitert. Inzwischen gibt es ärztliche und zahnärztliche Versorgung, Hilfe für die Tiere der Besucher, kostenlose Haarschnitte, Berufsberatung, eine Spielecke für Kinder – und sogar bisweilen warme selbst gestrickte Socken als Geschenk. Die Reihe „Kultur in der Vesperkirche“, die immer sonntags mit hochkarätigen Konzerten und Performances aufwartet, ist ebenso fester Bestandteil des Programms wie das Chorprojekt „rahmenlos und frei“ in dem Freunde und Gäste der Vesperkirche gemeinsam singen und musizieren. Im Zentrum stehen indes stets die vielen Gespräche und Begegnungen an den Tischen.

In 34 Orten und Städten im Land Nachfolger

Um all dies zu ermöglichen, bedarf es vieler Helfer: Insgesamt zwölf hauptamtliche Diakone und Sozialarbeiter stehen Gästen und Mitarbeitern als Ansprechpartner mit Rat und Tat zur Seite. Dazu sorgen täglich rund 30 ehrenamtliche Helfer mit ihrem Einsatz dafür, dass alles rundläuft und bringen ihre vielfältigen Begabungen in das Projekt ein. Gemeinsam gelingt es ihnen Jahr für Jahr, die Kirche zu einem Ort zu machen, an dem jeder Mensch in seiner ihm innewohnenden Würde wahrgenommen und wertgeschätzt wird. Die im Freiraum Vesperkirche mögliche Gleichstellung und Gleichbehandlung aller Menschen ist es wahrscheinlich auch, was den Traum von Pfarrer Martin Friz zum Erfolgsmodell hat werden lassen, das inzwischen an 34 Orten im Ländle Nachahmer gefunden hat.

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Erstellt:
7. Dezember 2019

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